Sir Simon serviert Salat

Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker, Joseph Haydn und Igor Strawinsky: Das ergibt einen schönen harmonischen Vierklang. Rattles witzig-vitalen Interpretationen des Wiener Klassikers waren das Zünglein an der Waage, als das Orchester den britischen Dirigenten zu Claudio Abbados Nachfolger wählte, „Le Sacre du printemps“, das Skandal-Ballett des russischen Kosmopoliten, wurde dann zum signature piece seiner Ära. Und auch jetzt, vier Jahre nach dem offiziellen Abschied von Sir Simon, funkt es noch zwischen ihm und den Musiker:innen, wenn Werke der beiden Komponisten auf den Notenpulten liegen.

„Von allen Musikern seiner Zeit war Haydn derjenige, der sich am meisten bewusst war, dass vollkommene Symmetrie bedeutet, vollkommen tot zu sein“, hat Strawinsky anerkennend über seinen Kollegen gesagt. Und Rattle macht das hörbar in dessen Sinfonie 102, komponiert 1794 in London.

In die quirlige Geschäftigkeit des Eröffnungssatzes mischen sich Störgeräusche, unerwartetes Pauken-Grollen, überraschende Tutti-Akzente als Ausrufezeichen. So funktioniert intelligente Unterhaltung, die der Maestro noch akzentuiert durch eine extra-lange Generalpause und ein besonderes Bremsmanöver, kurz bevor der Satz seinem Ende zuwirbelt.

So funktioniert intelligente Unterhaltung

Im Adagio lässt er die gestopften Trompeten wie blökende Schafe klingen, als Kontrapunkt zur Rokoko-Galanterie. Das Menuett nimmt er bäurisch-derb, so dass aus dem höfischen Schreiten ein Holzschuhtanz wird. Im finalen Presto schließlich wünscht er sich von den Philharmonikern duftige Leichtigkeit bei rasantem Tempo – ein Kunststück, das eben nur die Besten hinbekommen.

Nach der Pause kündigt der Dirigent dann einen „Strawinsky Salat“ an: Er hat ihn selber zusammengestellt, aber nicht aus den bekannten Hits, sondern aus ganz frühen und ganz späten Stücken, selten gespielten Werken und Gelegenheitskompositionen. Wie Picasso hat sich auch Strawinsky stilistisch in seiner langen Karriere vielfach gehäutet: Mit einer archaischen Fanfare geht es los, dann folgt Jahrhundertwendeprunk, die Mezzosopranistin Anna Lapkovskaja verströmt sich in einer Arie, die klingt, als hätten Tschaikowsky und Massenet sie gemeinsam komponiert.

Im „Chant funèbre“ von 1908 wagnert es, als Gegengift reicht Rattle Scherzlieder mit expressionistischer Begleitung. Wie der „Sacre“ auf Spanisch wirkt die Orchesteretüde „Madrid“, virtuose Zirkusnummern schließen sich an, zwischen Minimalistischem steht ein Pas de deux aus „Apollon musagète“, von den Philharmoniker mit betörendem Streicherklang zelebriert. Das „Scherzo alla russe“ schließlich fungiert als Rausschmeißer dieser kurzweiligen Werkschau, mit der Simon Rattle beweist, dass er auch mit 67 Jahren weiterhin ein neugieriger Forschungsreisender im Klassik-Repertoire ist.