Hommage an die Unsichtbaren
Was sehen wir, wenn wir in den Himmel schauen?“ lautet der Titel eines Wettbewerbsfilms dieses Jahr. Die Frage lässt sich gut auf die Dokumentarfilme der Festivals ummünzen. Was sehen wir, wenn wir Bilder schauen?
Die eindrücklichste Antwort gibt der Franzose Christophe Cognet in „À pas aveugles/From Where They Stood“, einem Film über die Fotografien, die KZ-Häftlinge heimlich aufgenommen haben, in Dachau, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Ravensbrück und Birkenau. Schon die Tatsache, dass sie überhaupt existieren, ihre schiere Zeugenschaft ist erschütternd.
Die Bilder sind schon seit längerem bekannt, aber Christophe Cognet wollte es ganz genau wissen. Welche Kameras hatten die Holocaust-Opfer, wie konnten sie ins Lager geschmuggelt werden und wie gelangten die Negative wieder hinaus? Wer waren die Fotografen, wer die Fotografierten? Manche posieren, Hände in den Hosentaschen, Standbein, Spielbein – auch wenn Haut und Knochen von grausamen medizinischen Versuchen entstellt sind. Die Posen besagen: Wir werden nicht als Menschen behandelt, aber wir lassen uns das Recht auf unser Bild nicht nehmen, auf den letzten Rest unserer Würde.
„Die Fotos sind mehr als nur Zeugnisse. Sie sind Imprints, Abdrucke, materielle Spuren. Und Akte des Widerstands“, sagt Cognet beim Video-Gespräch mit dem Tagesspiegel. Eine physische Manifestation, wie die winzigen Knochenreste, die der Regen aus der Erde von Dachau spült. Die letzten Überlebenden sterben, die Zeitzeugen verschwinden, auch deshalb sei ihr materielles Erbe immer wichtiger.
Cognet zog die Fotos auf Glasplatten ab, brachte sie zu den Gedenkstätten, suchte nach dem exakten Blickwinkel, aus dem die Bilder entstanden und stellte die Platten dort auf. Die Bäume, die Gebäude von damals schieben sich über das Gelände und die Ruinen von heute. Plötzlich spazieren zwischen den Häftlingen in gestreifter Sträflingskleidung die Gedenkstättenbesucher herum. „Die Vergangenheit sucht die Gegenwart heim, und die Gegenwart animiert die Vergangenheit“, so der 54-jährige Regisseur.
Cognet weist auch auf den Paradigmenwechsel zwischen den analogen Fotografien und den heutigen digitalen Bildern hin, die kein haptischer Abdruck mehr sind, sondern Zahlenwerk, „calcul“ auf französisch. Nie war es so leicht, Bilder zu machen, zu verbreiten, zu manipulieren. Umso mehr wächst die Skepsis. Welche unverbrüchliche Wahrheit dokumentieren sie noch? Was ist authentisch? Die Frage stellte sich zuletzt in den Kontroversen über nachgestellte Szenen oder zweifelhafte Dramatisierungen in den Grimme-Preis-nominierten Filmen „Lovemobil“ und „Die Unbeugsamen – Gefährdete Pressefreiheit auf den Philippinen“.
Sie prägt auch die Herangehensweisen etlicher Berlinale-Dokumentarfilme. Der mexikanische Wettbewerbsbeitrag „A Cop Movie“ von Alonso Ruizpalacios porträtiert eine Polizistin und einen Polizisten bei ihrem tapferen Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch bei den Ordnungshütern ihres Landes. Teresa und Montoya sind ein Paar, sie gehen zusammen auf Streife, die Kollegen geben ihnen den Spitznamen „Love Patrol“. Bis sie sich mit Vorgesetzten anlegen, gemobbt und versetzt werden.
Eine Schauspielerin spielt eine Polizistin – die erst später ins Bild kommt
Die Überraschung folgt in Teil 4 des durch Kapitel-Überschriften gegliederten Films: “Ein Schauspieler bereitet sich vor”. Es stellt sich heraus, Teresa und Montoya werden von Darstellern verkörpert, per Polizeitraining haben sie sich auf die Rollen vorbereitet wie sonst Polizei-Anwärter auf ihren Beruf. Die Off-Stimmen der Protagonisten sind echt, die Schauspieler bewegen dazu die Lippen synchron.
Ein Coup: Erst jetzt lernen wir das tatsächliche Paar kennen. Warum der V-Effekt? Weil auch Polizisten Schauspieler sein müssen, wenn sie Stärke demonstrieren. Weil Gewalt und Korruption nur so vor die Kamera gelangen können, als Reenactment.
Misstraut euren Sehgewohnheiten, besagt der Netflix-Film. Dass „A Cop Movie“ die Nachtszenen in Thriller-Manier mit Lichtergeflacker und Slowmotion-Effekten aufmotzt, ist dann allerdings zu viel der Raffinesse. Die Mittel dominieren den Zweck.
Kleine V-Effekte steigern die Aufmerksamkeit
Der coole und doch einfühlsame portugiesische Forums-Beitrag „No táxi do Jack“ baut gleich zu Beginn einen kleinen V-Effekt ein, wenn er seinen Helden, den zeitlebens auf Eleganz bedachten Malocher Joaquim, vor einer Kamera zeigt. Es ist nicht die Kamera der Filmemacherin Susana Nobre, sondern einer Mitarbeiterin im Arbeitsamt, die Joaquim kurz vor der Rente berät.
Bei „Anmaßung“ von Stefan Kolbe und Chris Wright, einem Porträt des verurteilten Sexualstraftäters Stefan S., überwölbt die Selbstreflexion die gesamte Erzählung. Wie nähert man sich so einem Menschen? „Was sehen wir, wenn wir nichts sehen?“, fragen Kolbe und Wright. Wieder wird nachgestellt, zwei Puppenspielerinnen führen eine Stefan-Puppe. Am Ende ist der Film weniger ein Psychogramm des Täters als der Filmemacher, ihres Unbehagens, ihrer moralischen Skrupel.
Eine andere Möglichkeit, in Zeiten der Allverfügbarkeit der Bilder integer zu bleiben, ist die vollständige Zurücknahme, die nüchterne Aufzeichnung. In „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ registriert die Überwachungskamera auf den leeren Straßen von Wuhan das Verschwinden der Öffentlichkeit im Corona-Lockdown. In „Taming the Garden“ von Salomé Jashi, einer bestürzend schönen Dokumentation über die Entwurzelung uralter Bäume für den Landschaftspark eines Superreichen, entfaltet der Kontrast zwischen Poesie und Raubbau an der Natur eine wortlose Wucht. Die Kamera wird zur blinden Seherin.
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Manchmal besteht das Geheimnis eines Dokumentarfilms schlicht in Geduld. Sehen ist Warten. Still sein, zugewandt sein, Vertrauen aufbauen. So ist es bei „Herr Bachmann und seine Klasse“, Maria Speths grandioser Langzeitbeobachtung einer Förderklasse, die sich als Mikrokosmos des Einwanderungslands Deutschland entpuppt.
So skizziert auch die Französin Alice Diop in „Nous“ ein Panorama der Banlieue-Bewohner am Rande von Paris, vom Automechaniker aus Mali über die eigene Schwester, die als Pflegerin gebrechliche Alte in ihren aus der Zeit gefallenen Wohnungen aufsucht, bis zu den Kindern, die auf Pappkartons die Wiese hinunterrutschen.
Diop tastet auch die Homevideos der eigenen Familie ab, sieben Minuten, auf denen Vater und Mutter zu sehen sind. Sie wollte ihre Eltern davor bewahren, ein zweites Mal zu sterben, sagte Diop am Sonntagabend in Berlin, als sie mit dem Encounters-Hauptpreis und dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Und dass sie jene Menschen würdigen möchte, die keine Spuren hinterlassen, die sonst unsichtbar bleiben.
Gibt es eine Grenze? Wie nahe darf die Kamera kommen?
Die Vergessenen zeigen, das Augenmerk auf sie lenken, das tun auch einige Beiträge des Panorama-Programms. Sei es “Garderie nocturne” über eine Art Nachkindergarten, in den Sexarbeiterinnen in Burkina Faso ihre Säuglinge bringen, wenn sie ihrem Job nachgehen.
Sei es der Schwarz-Weiß-Film “Dirty Feathers”, in dem Carlos Alfonso Corral Obdachlose in El-Paso begleitet. Zwischen Drogenalltag, dem Kampf um ihre Habseligkeiten und Streitereien im Übernachtungsheim entfalten die Protagonisten eine persönliche Kraft, die ihre Existenz in ein anderes Licht taucht. Traumata und Lebensträume – wobei die manchmal extreme Nähe der Kamera wieder die Frage nach der “Inszenierung” aufwirft, der Verabredung zwischen dem Filmemacher und den Gefilmten.
Was dürfen Bilder. Immer wieder stellt sich die Moralfrage. Der letzte Teil von „From Where They Stood“ ist den vier Bildern von Alberto Herrera aus Birkenau gewidmet. Herrera war Mitglied des Sonderkommandos, das bei den Vergasungen helfen musste.
Er filmte heimlich aus der Gaskammer heraus, vermutlich aus jener Öffnung, in die die Zyklon-B-Kapseln hineingeworfen wurden. Ein Foto mit Schemen von nackten Frauen, sie glaubten, sie würden unter die Dusche geschickt. Und eines von der Verbrennung der Leichen – Bilder an der Grenze des Bildertabus.
Bei ihrer ersten Veröffentlichung lösten sie in Frankreich eine Debatte aus, Claude Lanzmann beharrte auf die Undarstellbarkeit der Shoah, andere fanden sie als Beweismittel bedeutend. Christophe Cognet nimmt eine Mittelposition ein. Die Beweis-Logik findet er falsch, ja gefährlich, denn sie liefe darauf hinaus, dass etwas womöglich nicht geschehen wäre, wenn es keine Bilder davon gibt. Vor allem verweist er auf die Bedeutung der KZ-Häftlinge als Produzenten der Bilder. „Es liegt nicht an uns zu entscheiden, ob man diese Fotos anschauen soll oder nicht“, sagt er. „Die Fotografen haben es entschieden. Sie haben ihr Leben riskiert, um uns diese Bilder zu überliefern. Damit wir sie sehen können.“
Vielleicht sind das alle guten Dokumentarfilme: eine Annäherung an das, wovon wir uns kein Bild machen. Wovor wir die Augen verschließen.