Zernikel erreicht sein Lebensziel, Röhler wirft nur einmal
Das Publikum klatschte aufmunternd, der Stadionsprecher hob seine Stimme und kündigte lautstark eine Attraktion an, auf die die deutschen Leichtathletik-Fans lange hatten warten müssen: Thomas Röhler, Olympiasieger von 2016, nahm Anlauf zum Speerwurf. Das gesamte vergangene Jahr hatte der 29-Jährige ausgesetzt, Verletzungen auskuriert und sich um seinen neu geborenen Sohn Theodor gekümmert. Zudem verspürte Röhler überhaupt keine Lust auf ein coronabedingtes Geisterwerfen ohne Fans. „Für mich ist Sport ohne Zuschauer kein Wettkampf“, hatte er gesagt.
An diesem Samstag im Braunschweiger Eintracht-Station kehrte nun also nicht nur Röhler nach rund eineinhalb Jahren Pause zurück, bei den deutschen Meisterschaften der Leichtathleten durften auch erstmals wieder Zuschauer dabei sein. Und die sahen, wie der Mann aus Jena seinen Speer in den Himmel zu feuern versuchte, sein Wurfgeschoss sich aber schon nach rund 65 Metern in den Rasen bohrte – die Bestleistung des Jenaers liegt bei 93,90 Meter.
Röhler machte den Versuch ungültig, packte seine Sachen und verließ das Stadion, ohne auch nur ein weiteres Mal zu probieren, die Olympianorm oder die Konkurrenten um den Meistertitel anzugreifen. Zuletzt hatte Röhler seinen Saisonstart wegen einer Muskelverhärtung verschieben müssen, die Verletzung schien ihn immer noch zu behindern, mit einer erneuten Olympiateilnahme dürfte es für ihn nun sehr eng werden.
Nicht nur Röhler erlebte in Braunschweig einen unglücklichen Neustart, unter dunklen niedersächsischen Wolken konnten die besten deutschen Leichtathleten knapp 50 Tage vor Olympia kaum glänzen. Viele Stars hatten für die Titelkämpfe ohnehin absagen müssen – so wie der an einer Muskelverletzung leidende Speerwerfer Johannes Vetter. Der zuletzt überragende 28-Jährige hatte angekündigt, die Leistungen seiner Konkurrenten ganz entspannt aus der Ferne zu verfolgen, beim Grillen am Baggersee mit Freunden. In seiner Abwesenheit und durch Röhlers Formschwäche ging der Titel mit 80,33 Meter an Julian Weber aus Mainz.
In Braunschweig waren ein paar hundert Zuschauer dabei – für manche Athleten eine neue Erfahrung
Am Vormittag hatte in Braunschweig noch die Sonne geschienen, für einen der wenigen Höhepunkte des Tages sorgte Stabhochspringer Oleg Zernikel. Der 26-Jährige verbesserte seine persönliche Bestleistung um ganze 20 Zentimeter, übersprang 5,80 Meter und sicherte sich damit den Meistertitel und die Olympianorm.
Noch vor ein paar Monaten hatte der gebürtige Kasache nicht ernsthaft an die Qualifikation von Tokio geglaubt, jetzt erfüllte er sich seinen großen Traum. „Ich habe jeden Tag dafür geopfert, jetzt ist es erledigt“, sagte Zernikel, „mein Leben hat sich gelohnt, das Lebensziel ist erreicht.“
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Ins Eintracht-Stadion passen knapp 25.000 Zuschauer, am Samstag verloren sich vielleicht ein paar hundert Fans auf den blau-gelben Rängen, die Veranstalter hatten kostenlose Tickets an „Corona-Helden“ und Ehrenamtliche aus Leichtathletik-Vereinen verteilt. Die meisten Sportlerinnen und Sportler genossen es trotzdem, endlich einmal wieder vor Publikum ihr Können zu zeigen. Oder waren sogar irritiert von der mittlerweile völlig ungewohnten Umgebung, wie die neue Kugelstoß-Meisterin Sara Gambetta, die sagte: „Ich war ein bisschen abgelenkt von den Zuschauern, weil es ja was Neues ist.“
5000-Meter-Meister Mohumed Mohamed hingegen drehte nach seinem Sieg eine komplette Ehrenrunde und verteilte hartnäckig Kusshändchen.
Zum Abschluss des Tages durfte auch noch Alexandra Burghardt jubeln: Über 100 Meter stürmte sie in 11,14 Sekunden zum Titel, unterbot die Olympianorm und sicherte sich einen Startplatz in Tokio. Von den Fans durfte sie sich dabei allerdings nicht feiern lassen: Die Siegerehrungen finden in Braunschweig nicht im Stadion statt, sondern auf dem Aufwärmplatz nebenan, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.