Ein Hoch auf die Gambastuben
Es versteht sich von selbst, an dieser Stelle ein Buch zu rühmen, in dem der Tagesspiegel als „einziges Intelligenzblatt West-Berlins“ hervorgehoben wird. Und mehr: Michael Krüger berichtet in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen davon, dass sein Vater mit dem ersten Herausgeber des Tagesspiegels bekannt war, Erik Reger, und dessen – demnächst im Schöffling Verlag wiederveröffentlichten – Industrie-Roman „Union der festen Hand“ sehr schätzte.
Krüger selbst hatte dann als junger Mann Kontakt zum Nachfolger Regers, Walther Karsch, und schrieb auf die Vermittlung von Karsch hin seine überhaupt allererste Literaturrezension in einer Tageszeitung, über einen historischen Roman von Gore Vidal.
Viel Ehre also für den Tagesspiegel. Doch gibt es noch mehr Gründe, sich dieses Büchlein mit dem Titel „Am Strandbad“ vorzunehmen. (Szenen einer Kindheit. Edition 5 Plus, erhältlich in den 5-Plus-Buchhandlungen; 108 S., 16, 80 €.) Michael Krüger hat als Leiter des Hanser Verlags jahrzehntelang den hiesigen Literaturbetrieb geprägt; Schriftsteller, Lyriker und Essayist ist er überdies.
Und er führt in eine Zeit in West-Berlin, die nicht zu den geläufigsten, viel beschriebensten in der deutschsprachigen Literatur gehört: die fünfziger Jahre.
1943 im sachsen-anhaltinischen Wittgendorf im Kreis Zeitz auf einem Rittergut geboren, kam Krüger nach dem Krieg mit seinen Eltern und drei Geschwistern nach West-Berlin und wuchs hier tief im Westen auf, in der Von-Luck-Straße in Nikolassee, die von der Spanischen Allee bis zur Potsdamer Chaussee den Bezirk Zehlendorf durchschneidet.
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Sein Hometurf waren der Wannsee, der Schlachtensee, die Krumme Lanke und deren Umgebung, und da gehören die Besuche im Strandbad Wannsee mit seinem weißen Sand und den Laufstegen im Kabinen- und Gastrotrakt zu seinen schönsten Erinnerungen. Noch heute hat er den „überwältigenden Geruch nach billigem Hautöl in der Nase, der wie eine solide Aura über der ganzen Anlage lastete.“
Doch Krüger erzählt auch von seinem Vater, einem Postdirektor, der ein begeisterter Zweier-Paddler war. Er streift auch dessen Berufsleben im Nationalsozialismus, ohne die möglichen Verstrickungen des Vaters völlig durchdrungen zu haben; er erzählt von seiner Mutter, die von eben jenem Rittergut stammte und „das Schwartige, die Eselsohrbücher“ liebte.
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Und er erinnert sich vor allem eigener Leseanfänge, insbesondere am Schlachtensee, und der vielen, letztendlich einflussreichen Bekanntschaften, die er in der West-Berliner Bohème gemacht hat, insbesondere in den Gambastuben, einer Bar am S-Bahnhof Nikolassee. Hier lernte er beispielsweise den Dichter, Übersetzer und Herausgeber der Zeitschrift „Das Lot“ kennen, Gerd Henniger.
Von hier führte ihn, jetzt den Kopf voller Literatur, sein Weg später zu Treffen mit Claude Simon in der Schultheiss-Gaststätte am Wannsee oder zum Wassertreten im Starnberger See mit Imre Kertész, um mit diesem seltsame Zeitzer Parallelitäten zu erörtern. „Szenen einer Kindheit“ lautet der Untertitel von Krügers Buch bescheiden – und ist doch fast ein kleiner Bildungssroman geworden.