Ein Freigeist, der das Risiko liebt
Selbst Udo Kier, angereist aus der Wüstenstadt Palm Springs, findet es an diesem Abend in Locarno zu heiß. Der mitteilsame Rheinländer im grünen Anzug, der mit seinen berühmten Echsenaugen harmoniert, nutzt die Gala zum 75. Jubiläum des Tessiner Filmfestivals zu einer Ansprache an das Publikum auf den 8000 gelben Plastikstühlen auf der Piazza Grande.
Es soll zwar eigentlich um seinen neuen Film „My Neighbor Adolf“ von Leon Prudovsky gehen, doch lobt Kier erst einmal den Künstlerischen Direktor Giona A. Nazzaro dafür, dass sein Schauspielerkollege Matt Damon mit dem „Locarno Lifetime Achievement Award“ ausgezeichnet wird – dabei ist es Matt Dillon, der den Preis für sein Lebenswerk erhält.
Manche verwechseln ihn
Dieser verzeihliche kleine Lapsus passt zum Auftreten Dillons, das für einen Star seines Formats ausgesprochen ruhig und bescheiden ausfällt und dafür umso eindrücklicher im Gedächtnis bleibt.
Matt Dillon zeigt sich vom Anblick des dichtgedrängten, euphorischen Publikums auf der nächtlichen Piazza nach knapp drei Jahren Pandemie überwältigt. Ob Regisseure anwesend seien, will der schwarzgekleidete Ehrengast wissen: Er freue sich über Angebote und habe nicht vor, in Rente zu gehen. Mit 58 fühlt sich der New Yorker zu jung, um für sein Lebenswerk geehrt zu werden, andererseits treibe er sich ja schon eine ganze Weile im Filmgeschäft herum. Der „Rebell mit reiner Seele“, wie ihn das Festival-Magazin tituliert, wurde als Vierzehnjähriger auf dem Schulhof entdeckt.
Unter der Regie von Jonathan Kaplan drehte er in Colorado seinen ersten Film „Over The Edge“ („Wut im Bauch“). Seinen Ruhm als geheimnisvoller Außenseiter und zugleich dunkeläugiger, schwarzhaariger Mädchenschwarm mit markanten Zügen festigte Dillon ab 1983 endgültig mit Francis Ford Coppolas ikonischen Werken „The Outsiders“ und „Rumble Fish“ nach den Romanen der Schriftstellerin E.S. Hinton. In dem Schwarzweißfilm mit den bunt aufleuchtenden titelgebenden Kampffischen versucht Dillon alias Rusty James, seinen psychisch labilen älteren Bruder (Mickey Rourke) zu retten.
Hang zum Düsteren
Natürlich vergeblich, was zu den brüchig-dunklen, oft kriminellen Figuren passt, die Matt Dillon bevorzugt: „Es stimmt schon, da gibt es einige düstere Charaktere in meinen Filmen. Aber ich weiß nicht, ob sie zu mir tendieren oder ich zu ihnen. Ich suche immer nach Möglichkeiten, etwas anderes zu machen – das ist nicht immer leicht in einem Business, das am liebsten auf Nummer sicher geht.“
Deshalb wolle er nur mit risikobereiten Regisseuren wie Gus Van Sant oder Lars von Trier arbeiten, erklärt er beim Kaffee im Hotel Belvedere, dessen Ausblick auf den reglosen Lago Maggiore in der gleißenden Augustsonne seinem Namen alle Ehre macht: „Ich bin immer nur so gut wie der Regisseur. Wenn der Regisseur an den Film glaubt, tun es die Schauspieler auch.“
Respekt vor Riesenlaeinwand
Nach Locarno kam Dillon erstmals 1995, um Gus Van Sants sarkastisches Feuerwerk „To Die For“ vorzustellen, in dem er an der Seite Nicole Kidmans agiert, die als überdrehte Fernseh-Wetterfee ihren Film-Ehemann von drei Teenagern umbringen lässt. Der New Yorker hat ein Faible für die europäische (Film-)Kultur: Unter anderem sprang er 2020 für den verhinderten rumänischen Regisseur Christian Mungiu in der Jury der Filmfestspiele von Venedig ein, in Berlin eröffnete er eine Kunstausstellung, letzten Herbst war er Ehrengast der Viennale.
Auch seinen Aufenthalt in Locarno, das über und über im schwarz-gelben Fellmuster des „Pardo“, des in diversen Wettbewerben zu gewinnenden Leoparden geschmückt ist, genießt er sehr: „Ich liebe dieses Festival und finde es sehr wichtig: In Locarno lieben sie den Film und ehren ihn auf vielfache Weise. Wo gibt es schon so eine Riesenleinwand wie auf der Piazza Grande? Einen Film, den man dort gesehen hat, vergisst man nicht.“
Es sei die Unrast der Jugend und die Freiheit der reiferen Jahre, die Matt Dillons anhaltenden Erfolg ausmachten, heißt es in der Begründung für den Ehrenpreis von Locarno. In der Tat scheint seine Vorliebe für neue Ansätze und kreative Überraschungen Matt Dillon jung zu halten. Voller Begeisterung erzählt er von seinem Dokumentarfilm „El Gran Fellove“ über den kubanischen Komponisten und Sänger Francisco Fellove Valdés. Der habe ihn in Mexiko zunächst für einen Kabelträger gehalten.
Emotion schlägt Information
15 Jahre Arbeit stecken in dem laut seinem Schöpfer „universellen und menschlichen“ Film, der zwar 2020 beim Festival in San Sebastian Premiere feierte, dessen internationaler Kinostart aber noch aussteht. Er sei nach dem Prinzip „Emotion first, information second“ vorgegangen, erklärt Dillon, dem es um das Gefühl, das „sentimiento“ der 1940er Jahre ging – rührt daher auch seine Affinität zum damaligen Film noir? „Natürlich habe ich eine Verbindung zum Film noir“, gibt er zu: „Ich war ganz jung, als ich in einem Kino in der 96. Straße/Ecke Broadway Lana Turner in ‚Wenn der Postmann zweimal klingelt’ gesehen habe und Robert Mitchum in ‚Thunder Road’.“
Vom Film noir deutlich beeinflusst ist Dillons erste Regiearbeit „City of Ghosts“ aus dem Jahr 2002, die im Rahmen der Hommage in Locarno gezeigt wurde – ein Relikt im 35-Millimeter-Format, das er im Schrank hütete. Der Film wurde überwiegend in Kambodscha gedreht, eine Mischung aus tropischem Thriller und Vater-Sohn-Tragödie mit beeindruckenden Laiendarstellerinnen und -Darstellern.
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Denn Matt Dillon glaubt an die kreative Kraft der Improvisation und des Zufalls, ob bei kubanischer Musik, bei Beethoven oder als Titelheld in Lars von Triers maliziösem Schocker „The House That Jack Built“ von 2018: „Seine Anfrage kam überraschend. Ich bewundere seine Filme, hätte aber nie gedacht, dass wir einmal zusammenarbeiten würden.
Es war trotz des Themas überhaupt nicht düster, sondern sehr unterhaltsam, er hat viel Humor. Und es gab beim Drehen eine Freiheit, wie ich sie zuvor nie erlebt habe. Von Trier hat uns ermutigt, das Risiko einzugehen zu scheitern, und das war für mein professionelles Gehirn etwas Neues.“
Eines aber stört den Sohn irischer Einwanderer, der sich hätte vorstellen können, Schriftsteller zu werden, da ihn das Geschichtenerzählen so sehr reizt: Die Behauptung, er „verkörpere“ Rollen.
Da wird der sonst so charmante Gesprächspartner ansatzweise energisch: „Ich bin nicht Schauspieler geworden, um etwas darzustellen, so wie etwa ein Junge sagt: Mama, ich will singen! Mir geht es nicht darum, mich zu exponieren, sondern um Neugierde. Es ist der Wunsch, das Wesen des Menschen zu spiegeln. Meine Generation kreiste um Schauspieler wie Marlon Brando, Montgomery Clift und James Dean. Weil sie von innen heraus wirkten, das macht ihre Modernität aus.“
In diese große Reihe passt der überraschungsliebende Freigeist Matt Dillon perfekt.