Ganz nah dran

Er ist so lange als einer der größten Fotorealisten gefeiert worden, bis er den Begriff zu hassen begann. Ihn interessiere vor allem die Künstlichkeit, nicht die Wirklichkeit, hat Chuck Close immer wieder versichert. Er sah sich als „eine Art Spurenverwischer, der dem Betrachter möglichst komplexe Rätsel aufgeben will“. Der Maler war 1940 in der Nähe von Seattle zur Welt gekommen und hatte in Yale Kunst studiert. Bald, nachdem er 1967 nach New York gezogen war, begann er, Porträts von sich selbst und Freunden und Bekannten aus dem Künstlerviertel SoHo zu produzieren.

Gnadenlose Genauigkeit

Dabei ist er geblieben, ein ganzes Künstlerleben lang. Meist malte er nur Gesichter, dies aber mit einer solch gnadenlosen Genauigkeit, dass jede Pore, jeder Bartstoppel, jeder Pickel wie unter einer Lupe zu erkennen ist. Der Close-up wurde zum Markenzeichen von Close. Seine anfangs noch schwarz-weißen, bald farbigen Porträts sind eigentlich eher Gesichtslandschaften, vor allem wegen ihrer bisweilen wandfüllenden Ausmaße. Als Vorlage dienten Polaroid-Fotos, die Close auf der Leinwand bis zur sechzigfachen Größe aufpumpte. Unter den Menschen, die er portätierte, waren auch Prominente wie Ex-Präsident Bill Clinton oder der Komponist Philip Glass

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Seine drei mal 6,5 Meter messende „Big Nude“ – eine der wenigen Ganzkörper-Darstellungen – ist so groß, dass er sie nur mit Hilfe eines hochgefahrenen Gabelstaplers in den luftigen Höhen seines Ateliers erschaffen konnte. Große Formate liebte Close, seit er mit 14 Jahren ein Drip-Painting von Jackson Pollock im Museum gesehen hatte, was ihn „absolut verstörte“. “Der großer Maßstab zwingt den Betrachter, die Oberfläche des Gemäldes anders zu lesen”, so hat er seine künstlerische Strategie beschrieben. “Er muss das Gemälde scannen und Stück für Stück betrachten, um zu einem Eindruck des gesamten Kopfes zu gelangen.”

Feier der Vielfalt

An Psychologie war dieser Menschen-Maler nicht interessiert, die Vielfalt, die sein Werk feiert, ist vor allem eine äußere. “In gewisser Weise”, sagte er, “ist meine Arbeit mit der eines Karikaturisten vergleichbar, der die Unterschiede zwischen den Menschen so weit übertreibt, dass der Betrachter die spezifischen Eigenschaften der einzelnen Köpfe nicht ignorieren kann.” Seine Foto-Vorlagen übertrug Close, ähnlich wie ein barocker Freskenmaler, mit Hilfe eines Rasters in die Malerei. Aus der Nähe entpuppen sich seine Gemälde als fast schon wieder abstrakte Kompositionen aus zahllosen Pixeln. Einen Pointillisten hat man ihn deshalb genannt, den „Seurat des Hyperrealismus“.

Abstraktion aus tausend Pixeln

Den Durchbruch zum internationalen Kunststar schaffte Close auf der Documenta 5 in Kassel, die 1972 die Wiederkehr des Realismus feierte. Das New Yorker Museum of Modern Art widmete ihm 1973 die erste Einzelausstellung. Seit ein geplatztes Blutgefäß in seiner Wirbelsäule 1988 zu einer Querschnittslähmung geführt hatte, war der Maler bei der Arbeit auf die Hilfe einer Manschette angewiesen, mit der er den Pinsel hielt. Zuletzt sorgte er 2017 für Schlagzeilen, als ihm zwei Frauen sexuelle Belästigung wegen anzüglicher Kommentare vorwarfen. Er entschuldigte sich bei ihnen für sein „schmutziges Mundwerk“. Chuck Close ist am Donnerstag in einem New Yorker Krankenhaus gestorben. Er wurde 81 Jahre alt.