Lars Eidinger kann auch traditionell

Zunächst eine gute Nachricht für „Jedermann“-Traditionalisten: Die berühmten Rufe, die üblicherweise von den Kirchtürmen und der Festung Hohensalzburg erschallen und dem reichen Mann das Nahen des Todes verkünden, sind an ihren angestammten Platz in der Bankettszene zurückgekehrt. Vor vier Jahren hatte sie der österreichische Regisseur Michael Sturminger, ein gut beschäftigter Routinier seines Fachs, zusammen mit dem Domgeläut als Prolog an den Beginn von Hugo von Hofmannsthals Festspiel-Dauerbrenner gestellt. Das Publikum schien die kleine Revolution zu akzeptieren, doch der Gänseschauermoment der Todesverkündigung war verloren gegangen.
Und noch eine gute Nachricht: Lars Eidinger als neuer Jedermann ist eine Wucht. Selten zuvor war ein Salzburger Hauptdarsteller mit so viel Vorschusslorbeer überhäuft worden, wie der Berliner, der als langjähriges Ensemblemitglied der Schaubühne schon in zahlreichen Shakespeare-Rollen überzeugte und als exzentrischer Unternehmersohn auch für die vierte Staffel von „Babylon Berlin“ gebucht ist.

Stärker als Moretti

Nicht nur an Textverständlichkeit, sondern auch an darstellerischer Präsenz stellt er seinen nuschelnden Vorgänger Tobias Moretti, den immer etwas selbstbezogen wirkenden Tiroler, weit in den Schatten. Ovationen für den 45-jährigen nach der Premiere zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2021! Sie musste am Samstagabend wieder einmal wegen Dauerregens ins Große Festspielhaus verlegt werden – was den Festspielen gewissermaßen eine zweite Premiere auf dem Domplatz bescheren wird, wenn der Regen einmal nachlassen sollte.
<SB190,65,140>Eigentlich sollte es dieses Jahr eine Wiederaufnahme der vor vier Jahren entstandenen Produktion aus den Händen Sturmingers geben. Doch wegen der Umbesetzung fast des gesamten Darstellerteams entschied man sich kurzfristig für eine komplette Neudeutung von Hofmannsthals Mysterienspiel vom „Sterben des reichen Mannes“, den beim feuchtfröhlichen Festbankett der Tod zur letzten Reise bittet und der nach seiner Bekehrung als reuiger Sünder vor seinen göttlichen Richter tritt. Seit 101 Jahren ist das üblicherweise auf dem Domplatz gegebene Spiel fester Bestandteil der Salzburger Festspiele und notorisch ausverkauft.

Eine komplett neue Regie

Dass sich derselbe Regisseur zweimal hintereinander das gleiche Stück vornimmt, ist unüblich. Sturmingers Version von 2017 war die prosaischste aller Zeiten, mit viel Technik, wenig Glauben (Sturminger ist bekennender Atheist) und massiven Eingriffen in den Text. Ein allzu kühles Spektakel, das nie zu Herzen ging. Im zweiten Anlauf warf der Regisseur sein in enger Zusammenarbeit mit Moretti entstandenes Mager-Konzept über den Haufen und näherte sich nach einem unkonventionellen Beginn in auffallender Weise dem gravitätischen Duktus der Ursprungsinszenierung von Festspielgründer Max Reinhardt an.
Zu Anfang dachte man noch, Sturminger hole jetzt zur finalen Zertrümmerung des Dauerbrenners aus. Als Gottvater mit weißem Rauschebart erinnert Mavie Hörbiger, die später auch den Teufel gibt, an den einst als Bhagwan verehrten Sektenführer, eine etwas peinliche Nummer. Beim Anfangsmonolog des Jedermann, in dem er mit seinem Reichtum prahlt, sitzt ihm Verena Altenberger als Buhlschaft auf den Schultern, teilt mit ihm den Text und übernimmt gleich noch die Rolle des Kochs, der das Menü fürs Festbankett präsentiert. Und dem von ihm ins Gefängnis expedierten Schuldknecht verpasst Jedermann im Boxring den Knockdown – viel Klamauk mit einem puschelnden Cheerleader-Duo und Slapstick-Effekten.

Dann doch katholisch

Doch danach lenkt Sturminger seine Inszenierung, für die Renate Martin und Andreas Donhauser verfremdet-historisierende Kostüme kreiert hatten, in ruhigere Bahnen. Nun kann Eidinger sein Talent sensibel-kraftvoller Textdeutung voll entfalten und spart dabei nicht mit offensivem Körpereinsatz, was seiner Begegnung mit der Buhlschaft, die zur Kurzhaarfrisur einen roten Hosenanzug trägt, einen ungemein erotischen Charakter verlieh. Ihr Abschied von Jedermann wird wortlos als innige Pantomime von Anziehung und Abstoßung zelebriert, eine starke Szene.
Mavie Hörbiger, Enkelin der österreichischen Theaterlegende Paul Hörbiger, als erster weiblicher Teufel der Festspielgeschichte ist eine schwierige Besetzung. Um dem Glauben wirklich Paroli zu bieten, fehlt ihr trotz beachtlichen Engagements der komödiantische Überdruck.

Nach vier Jahren als Jedermanns bigotte Mutter verkörpert Edith Clever diesmal den Tod. Äußerlich an einen Shinto-Priester erinnernd, verkündet sie dem Jedermann mit Grabesstimme das Ende aller Geselligkeit. Am Ende sinkt ihr der Todeskandidat freiwillig in die Arme. Zu Bachs Choral „Komm, o Tod, du schlafes Bruder“ bilden sie das anrührende Bild einer trauernden Maria, die den Leichnam Christi in ihren Armen hält.
Für die in Zeiten maximaler Glaubensferne immer problematischere Figur des Glaubens (Kathleen Morgeneyer) und die stets etwas gewaltsam wirkende Last-Minute-Bekehrung des Jedermann findet auch Sturminger keine Lösung. Er ließ sie und Hofmannsthals Knittelverse gewähren, was nicht ohne Kitschmomente abgeht. Auch das freilich gehört zum Salzburger Sommertheater. Und draußen auf dem Domplatz gelten ohnehin andere Gesetze.