Der Raketenmann fliegt weiter
Zu den erstaunlichsten Pophits dieses Herbstes gehört „Cold Heart“. Der fröhlich drauflos stampfende Song erzählt vom Scheitern einer Liebe, vom Abstürzen und Wiederaufstehen. „Cold, cold heart“, lautet der Refrain, „hardened by you“: Mein Herz ist kalt und schuld daran bist du. Die Stimme, die hier klagt und wettert, gehört Elton John, man erkennt sie sofort, auch wenn sie mit Autotune-Effekten in ein höheres Register gehoben wurde. Aber warum klingt dieser Mann so verdammt fröhlich, wenn er zu trockenen Housebeats und glitzernden Syntheziserfanfaren sein Innerstes nach außen krempelt?
Vielleicht, weil es ihm mit 74 Jahren noch einmal gelungen ist, seine Karriere in eine neue Richtung zu lenken. Weg vom Oldierock, hinein in die Clubs und auf die Tanzfläche. Mit „Cold Heart“ eroberte Sir Elton John zum ersten Mal seit 16 Jahren den ersten Platz der britischen Single-Charts. Zu verdanken hat er das auch der fast fünfzig Jahre jüngeren Sängerin Dua Lipa, die ihn auf „Cold Heart“ begleitet, und dem australischen Elektropopduo Pnau, das den Track remixt hat. „Cold Heart“ ist eine coole, extrem clevere Zweitverwertung, zusammengesetzt aus Elementen der Klassiker „Rocket Man“ und „Sacrifice“.
Zusammengesetzt aus Zweitverwertungen
Die Zeilen „And I think it’s gonna be a long, long time / ’Til touchdown brings me ’round again to find / I’m not the man they think I am at home“, geschrieben von Elton Johns kongenialem Texter Bernie Taupin, hatten 1972 ähnlich wie zuvor schon David Bowies „Space Oddity“ die Euphorie des beginnenden Weltraumreise-Zeitalters in Worte gefasst.
Heute stehen sie für die Phoenix-aus- der-Asche-Geschichte eines Stars, der die wildesten Jahre des Rock’n’Roll überlebt hat. Der „Rocket Man“ ist nicht verglüht, das gleichnamige Biopic, das vor zwei Jahren in die Kinos kam, zeigt neben seinen Triumphen auch die Drogeneskapaden und Nahtoderlebnisse.
„Cold Heart“ ist das Auftaktstück von Elton Johns 32. Studioalbum „The Lockdown Sessions“. Als die Corona-Pandemie die Welt lahmlegte, steckte der Sänger mitten in seiner monumentalen „Farewell Yellow Brick Lane“-Tour, mir der er sich von der Bühne verabschieden will. Sie soll wahnwitzige 300 Konzerte auf der ganzen Welt umfassen, startete im Herbst 2018 und musste im März 2020 in Sydney abgebrochen werden. Plötzlich hatte John viel Zeit und er nutzte sie, um Songs zu schreiben, die er mit prominenten Gästen aufgenommen hat. Viele dieser Musikerinnen und Musiker hat er in seiner „Rocket Hour“-Talkshow kennengelernt, die bei Apple Music läuft.
Vergangene Leidenschaften
Mit den Gorillaz, denen eines der besten Stücke der Platte zu verdanken ist, hat Elton John schon auf der Bühne gestanden. „The Pink Phantom“ verbindet schleppende Triphop-Rhythmen mit orchestralen Soundtrack-Schnipseln wie aus einem Hollywood-Melodram der Fünfzigerjahre. Auch hier geht es um vergangene Leidenschaften, den Gesang teilen sich Elton John und Damon Albarn.
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Mit Pathos gegeizt hat John nie, seine Musik strebt mitunter ins Operettenhafte. Zu den Kuriositäten der „Lockdown Sessions“ zählt eine überkandidelte Coverversion der ohnehin bereits zu Tode gecoverten Metallica-Hymne „Nothing Else Matter“, an der neben der Sängerin Miley Cyrus auch der zwischen Klassik und Populärmusik changierende Cellist Yo-Yo Ma mitgewirkt hat.
Eingespielt wurden die 16 Titel des Albums digital per Zoom-Konferenz oder unter strengen Auflagen im Studio. Vom Improvisationscharakter der Aufnahmen ist allerdings nichts zu spüren, der Produzent Andrew Watt, der schon mit Justin Bieber und Ozzy Osbourne arbeitete, verpasste den Songs einen manchmal arg aseptischen Oberflächenglanz. Elton John sagt, dass sich mit dem Album für ihn „ein Kreis schließt“. Die Arbeit habe ihn an die Anfänge seiner Karriere in den späten Sechzigerjahren erinnert, als er ein Session-Musiker war. „Und ich hatte immer noch wahnsinnig viel Spaß dabei“.
Liebe als Gebrauchtwagen
Zu hören ist das etwa in „E-Ticket“, einer furiosen Aufeinandertreffen von entfesseltem Boogie-Woogie-Piano und Hardrock-Gitarrengegniedel, realisiert mit dem Grundge-Veteranen Eddie Vedder. Der Text schildert die Vorteile, die ein Lockdown so mit sich bringt. Zum Beispiel, dass für ein E-Ticket niemand anstehen muss. Ähnlich ironisch geht es in der Powerballade „Stolen Car“ zu, in der Elton John gemeinsam mit der Fleetwood Mac-Frontfrau Stevie Nicks eine Liebe besingt, die wie ein gestohlenes Auto gewesen sei: grandios, bloß nicht von Dauer. „We’re dancing in slow motion“, versichern sie einander, „the house is still on fire“. Nicks und John mögen nicht mehr so beweglich sein wie einst, aber in ihnen brennt das Feuer noch immer.
Das Thema des Älterwerdens und Abschiedsnehmens zieht sich durch die „Lockdown Sessions“, am schönsten in der Soul-Hymne „Finish Line“. Begleitet von jubelnden Gospelchören und einer Funk-Bassline machen Elton John und Stevie Wonder einander Komplimente: „You, oh you / Are still a beauty to behold / You’ve been my muse / All along, you have been the song that I wanna hear, ooh yeah“. Zwei Helden der Ü-70-Generation, die sich offenbar ein Leben lang bewundert haben, einander Musen waren. Klingt kitschig, aber wenn Stevie Wonder am Ende auf seine sehr spezieller Art Mundharmonika spielt, nimmt man ihnen die Rührung ab.
[„The Lockdown Sessions“ von Elton John sind bei Universal erschienen.]
Elton John ist ein LGBTQ-Idol, mit seiner Fassung des Tanzflächenknallers „It’s a Sin“ huldigt er nun den Pet Shop Boys. Der Song beginnt mit tastenden Klavierakkorden und der entrückten Stimme des Sängers Olly Alexander, dann knattern House-Rhythmen los und John jubelt: „For everything I long to do / No matter when or where or who / Has one thing in common, too / It’s a, it’s a, it’s a, it’s a sin“. Ein Loblied auf die Wonnen der Sünde und auf alle Diskotheken dieser Welt, fast ein Gebet.