Die neue Mauer

Die Debatte um die sogenannte Ost-Identität nimmt wieder Fahrt auf. Das ist gut so. Daniel Schulz mit „Wir waren wie Brüder“, Hendrik Bolz mit „Nullerjahre“, Domenico Müllensiefen mit „Aus unseren Feuern“ sondieren aktuelle Befindlichkeiten, Manja Präkels hat das mit „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ schon vor fünf Jahren gemacht. Mit überwiegend literarischen Mitteln blicken sie alle auf ihre prägenden Erfahrungen im Ostdeutschland nach der Wende in den neunziger und nuller Jahren zurück.

Jana Hensel und Wolfgang Engler wählen in „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ die Form eines kontroversen Dialogs, der Soziologe Steffen Mau begibt sich in „Lütten Klein“ auf die Spurensuche „zurück nach Rostock“ und konfrontiert seine wissenschaftlichen Diagnosen mit der Alltagsrealität der Stadt seiner Kindheit. Diese Bücher zeichnet eine persönliche Neugier aus, dazu kommt eine produktive Mischung aus Verunsicherung und Selbstversicherung.

Aggressive Sprache

Doch es gibt auch Beiträge zu einer spezifisch ostdeutschen Identität, die weit weniger hilfreich sind. Der Leipziger Germanist Dirk Oschmann präsentiert in einem Anfang Februar in der „FAZ“ veröffentlichten Artikel die These: Der Westen erfindet sich den Osten, er maße sich an, „den Osten identitätspolitisch zu interpretieren und dabei faktisch zu isolieren.“ Was in Büchern wie „Nullerjahre“ und „Wir waren wie Brüder“ eingestanden wird, die Rolle der Gewalt bei der individuellen Selbstfindung und der Schaffung neuen Zusammenhalts, hallt leider auch in der mitunter aggressiven Sprache Oschmanns nach. Durch Übertreibungen und unzulässige Verallgemeinerungen kommt sein Text einer Wutrede gleich, die dadurch an Argumentationskraft einbüßt.

Bei ihm ist immer alles „klar“. Die Stärke der AfD hänge „klar“ mit dem Versagen „der anderen Parteien“ zusammen, der Ostbeauftragte sei „Symbol eines ungeheuerlichen Paternalismus“, die Medien seien „komplett in westdeutscher Hand“ und „vollständig von westdeutschen Perspektiven dominiert“, den Ostdeutschen werde „permanent abverlangt, sich dafür zu schämen“.

Doch die realen Verhältnisse waren und sind komplizierter. Die Vereinigung hat den Menschen in den neuen Bundesländern seit 1990 das gebracht, was sie auf ihren Demonstrationen gefordert hatten: ein Ende der Einparteienherrschaft, die Freiheit zu reisen, ein Ende der Mangelwirtschaft und des rasanten Verfalls der Städte. Sie hat ihnen aber auch sehr viel genommen und Erfahrungen beschert, die ihnen ohne das Ausspielen der ökonomischen und politischen Übermacht der alten Bundesrepublik weitgehend erspart geblieben wären, wovon unter anderem die eingangs erwähnten Bücher künden.

Herabsetzung von DDR-Biografien

Wirtschaftliche Gier und Skrupellosigkeit, Subvention- und Steuerbetrug waren im Westen nicht unbekannt, aber sie konnten sich in der unübersichtlichen Anfangsphase in Ostdeutschland nahezu ungehindert ausleben. Die Unzufriedenheit vieler Fachkräfte, die aus dem Westen in die Behörden entsandt wurden, konnte finanziell kompensiert werden. Dies hinderte viele von ihnen nicht daran, die individuellen und gemeinschaftlichen Leistungen der Menschen in der ehemaligen DDR subtil oder offen herabzusetzen.

Und dennoch: Diese Situation schuf die erste Phase einer gemeinsamen Geschichte, an welchem Ort man sie auch immer erlebt hat. Nur die gemeinsame Aufarbeitung kann zu einer allmählichen Auflösung der weiter schwelenden Konflikte führen. Bei Dirk Oschmann wird aus einer widersprüchlichen Gemengelage ein unvereinbarer Gegensatz zweier Lebenswelten in Deutschland. Er spricht von einem „gänzlich irreparablen ökonomischen Ungleichgewicht“. Doch wie ist es um Wohnviertel, Schulen, Straßen und Parks in Städten wie Gelsenkirchen, Hagen oder im Essener Norden bestellt? Die Deindustrialisierung hat nicht nur in Ostdeutschland verheerende Spuren hinterlassen.

Oschmann geht davon aus, dass eine durch Geburt, Ortsgebundenheit und Gemeinschaftserfahrung geprägte Ost-Identität existiert, die sich von der Herrschermentalität des Westens abgrenzen ließe. Das methodische Rüstzeug für ihre Beschreibung hat er offensichtlich aus den USA mitgebracht. Denn nicht nur bei den Rechten im „Institut für Staatspolitik“ in Schnellroda wird konfrontative Identitätspolitik betrieben, sondern auch dort, wo der Westen am westlichsten ist, an den links-liberalen amerikanischen Universitäten.

Festgeschriebene Opfer-Positionen

Dort hat sich, wenn es um Geschlecht und Minderheiten geht, ein Beschreibungsschema durchgesetzt, mit dessen Hilfe nicht nur Sachverhalte erkundet, sondern häufig auch Behauptungen bestätigt werden sollen. Als erstes wird dort, wo es in der Realität Überschneidungen, Vermischungen und Übergänge gibt, eine starre Grenzlinie gezogen. Sie bestimmt sowohl Wahrnehmung als auch Deutung. Hier wird sie nun zwischen „West“ und „Ost“ gezogen, in sozialistischen Systemen zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum, und in bestimmten Religionen zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Wahrnehmung und Deutung werden zweitens strikt an den eigenen Interessen und Erfahrungen ausgerichtet, die Erfahrungen der anderen ignoriert. Durch „Erzählungen“, die individuell-anekdotisch oder historisch sein können, wird drittens die Opferposition diesseits und die Täterposition jenseits der Grenzlinie verortet. Die so festgeschriebenen Positionen haben viertens Vorrang vor konkreten Handlungen und Einstellungen der Individuen. So kann man als Opfer erscheinen, auch wenn man Menschen gewaltsam durch Chemnitz jagt. Die Grenzlinie bestimmt in identitären Theorien fünftens die Wertigkeit und Zulässigkeit von Aussagen.

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Dieses Beschreibungsschema durchzieht den Text von Dirk Oschmann. Aus seiner Sicht werden die Menschen in Ostdeutschland zu Fremden gemacht, „zu Fremden im eigenen Land“, wie er schreibt, zu den hässlichen, bösen Fremden, während die Migranten und Flüchtlinge die Guten seien. „Der Osten kann sich nur verhöhnt vorkommen, wenn in Sonntagsreden von Diversität, Diversifizierung, Integration, Inklusion gesprochen wird, weil er niemals mitgemeint ist.“ Solche von Wut und Ressentiment bestimmte Sätze beweisen, wie schwer ein Dialog ist. Wer an einer gemeinsam betriebenen zivilgesellschaftlichen Weiterentwicklung in ganz Deutschland interessiert ist, registriert das mit Bedauern.

Versöhnung ist nicht das Ziel

Ich frage mich, wie wir miteinander und doch in harter Auseinandersetzung und ohne neue Empfindlichkeiten zu erzeugen, aus dieser konfrontativen Situation hinausfinden? Sicherlich nicht durch identitäre Vereinfachungen und die daraus entstehenden Aus- und Abgrenzungen. Da ist der Gedanke dann doch nicht mehr so abwegig, dass wir in Deutschland so etwas wie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild benötigen. Aber Versöhnung ist nicht das Ziel identitärer Politik.

Ja, es gibt einen Unterschied zwischen dem Leben vieler Menschen in der alten Bundesrepublik und den neuen Bundesländern, wenn auch nicht in der behaupteten Ausschließlichkeit. Das Ende der DDR markierte eine politische Zäsur.

Zugleich war es mit einem Verlust an Zugehörigkeit verbunden, von dessen Ausmaß man sich als Nicht-Betroffener keine Vorstellung gemacht hat. Dieses Zugehörigkeitsgefühl, das mir übrigens auch als Kind des hässlichen, vernachlässigten Ruhrgebiets durchaus vertraut ist, muss zurückgewonnen werden: regional zuallererst, dann aber hinsichtlich der gemeinsamen Erfahrungen in Ostdeutschland in und seit der Vereinigung. Dazu gehören aber auch Stasiverstrickungen oder die Tatsache, dass die Resonanz für rechtsradikales Gedankengut im „Osten“ breiter und tiefer und dessen soziale Ächtung deutlich geringer ist.

Sich auseinandersetzen heißt zuhören und zu verstehen versuchen, aber auch zu widersprechen, wo erforderlich. Wir leben gemeinsam in einem Land, mit unterschiedlichen Erfahrungen, aber mit einer Verfassung und den gleichen Gesetzen und hoffentlich auch in Zukunft wieder mit den gleichen zivilgesellschaftlichen Zielen. Man könnte auch kritisch sagen, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse gleich sind. Ich vermute, dass Mieter in München oder Düsseldorf das Gleiche erleben wie in Dresden oder Potsdam.

[Klaus-Michael Bogdal ist Literaturwissenschaftler an der Universität Bielefeld]

Das Gemeinsame betrifft auch die Menschen, die für geringen Lohn die Konsumgüter in die Wohnungen in Ost und West bringen, oder die Bildungsschere, die im „Westen“ größer ist als im „Osten“. Das alles und mehr gemeinsam anzugehen, wird mehr Einheit und Gleichheit bringen als identitäre Verfestigungen und ständige Feinderklärungen. Wie steht es bei Hegel: „Bildung ist dort vorhanden, wo einer die Gedanken des anderen, auch wenn er sie nicht teilt, zu verstehen sucht.“