Demokratie und Öffentlichkeit: Selbstgestrickt und ferngetrollt

Wenn aus Zeitungen „hochkapitalistische Gewerbebetriebe“ werden, steht es um die Öffentlichkeit nicht gut: Mit dem „Maße ihrer Kommerzialisierung“ werde die Presse manipulierbar. So argumentierte der junge Jürgen Habermas 1962.

Vor 60 Jahren erschien seine fulminante Studie zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Man hört den neuen Ton der rebellischen Sixties, das Vokabular des Protests. Vor allem aber erkennt man einen Intellektuellen, der im Nachkriegsdeutschland für die Demokratisierung der Öffentlichkeit streitet.

Was bleibt von der Kritik mehr als ein halbes Jahrhundert später? In „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ zieht Habermas Bilanz. Die ersten Abschnitte seines Essays „Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“ empfehlen sich auch als Einführung in die Grundbegriffe seiner politischen Philosophie: Demokratische Mehrheitsentscheidungen brauchen rationale Öffentlichkeiten, so ließe sich der Gedankengang ganz verknappt formulieren.

Öffentlichkeitsskeptische Politik

Die Krawallmacher und die Politzyniker hat diese Idee schon 1962 gleichermaßen geärgert. Noch mehr darf sie ärgern, dass Habermas’ Buch so unvergleichlich gut gealtert ist. Das Thema war treffsicher gewählt, gerade weil erhebliche Teile der Politik und Presse in den Gründungsjahren der Bundesrepublik öffentlichkeitsskeptisch blieben. So jedenfalls schildert es die Historikerin Christina von Hodenberg in ihrer „Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit“. Ungezählt sind die Anstöße für Theorie und Praxis, die von der „Strukturwandel“-Studie ausgingen: in und seit den bürger- und studentenbewegten Jahren, noch einmal nach 1989.

Auch Habermas kam auf die Sache der Öffentlichkeit immer wieder zurück, etwa im Vorwort zur Neuausgabe 1990. Oder mit seinen Überlegungen zur Zivilgesellschaft in „Faktizität und Geltung“ 1992. Nun greift er den ursprünglichen Titelbegriff wieder auf. Und trifft auf ein Medien- und Forschungsfeld, in dem die Rede vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zum geflügelten Wort geworden ist.

Das aktuelle Buch ist deutlich schmaler: Anders als bei der ursprünglichen Studie, bei der Diskurstheorie oder der späten Rechtsphilosophie handelt es sich nicht um eine Untersuchung, die einen Bereich umfassend abklopfen will. Vielmehr legt Habermas einen Debattenbeitrag aus einer klar umrissenen philosophischen Perspektive vor: Er führt aus, warum die neuen Medien die alten Hoffnungen der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht erfüllen können.

Manipulative Macht

Für einen Moment schien es so, als hätten die sozialen Medien die manipulative Macht der traditionellen Medienkonzerne in westlichen Demokratien, der Propagandamaschinen in Autokratien entzaubert: Alle können nun mitreden, mitschreiben, mitdiskutieren – nicht nur im Café oder mit Freunden, sondern auf offener Bühne, potentiell mit allen. „Selbstermächtigung der Mediennutzer“ nennt Habermas das, die „Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft der alten Medien“.

Allerdings hat diese Ermächtigung eine Kehrseite. Die Schilderung der problematischen Seiten nimmt im Essay viel Raum ein. Und sie klingt nicht nur wie eine Revision seiner Öffentlichkeitstheorie, sondern wie eine verspätete Kulturkritik: So beklagt Habermas den Bedeutungsverlust genau der traditionellen Massenmedien, die er im ersten „Strukturwandel“-Buch als zumindest potentiell manipulativ beschrieb.

In den sozialen Medien gibt es keine Gatekeeper: Es fehlt an Kriterien und Verfahren, nach denen entschieden wird, was öffentlich wird, was im Privaten bleibt, was selbstgestrickt und was ferngetrollt ist. Hat die Erfindung des Buchdrucks alle zu potentiellen Lesern gemacht, dann macht die Digitalisierung alle zu potentiellen Autoren. So weit, so bekannt. Nur hätten die Menschen „den Umgang mit den neuen Medien noch nicht hinreichend gelernt“.

Braucht es mehr digitale Aufklärung?

Solche Sätze wirken schulmeisterlich. Vor allem aber klingen sie so, als hätte Habermas die Analyse von Strukturen durch die Bewertung von Kompetenzen ersetzt. Braucht es mehr digitale Aufklärung? Mehr Tutorials, mehr Nachhilfe? Was, wenn die jüngere Generation entgegnet, dass sie nicht weniger kritisch, nicht weniger aufgeklärt sei? Doch so einfach ist es nicht, so einfach macht Habermas es sich nicht.

„Für die Medienstruktur der Öffentlichkeit ist dieser Plattformcharakter das eigentlich Neue an den neuen Medien“, schreibt er. Der Niedergang der traditionellen Massenmedien, der Abbau professioneller Instanzen ist nur ein Aspekt dieses Wandels, der im Essay besonders exponiert dargestellt wird. Die andere Seite betrifft ökonomisch-juristische Strukturen: Dass digitale Plattformen für die Verbreitung von Inhalten keine Haftung übernehmen müssen, sei der „Grundfehler“. Das müsse sich ändern, fordert Habermas.

Das „Strukturwandel“-Buch wollte 1962 die Massenmedien besser, rationaler, verantwortlicher machen. Es ging nicht darum, sie abzuschalten oder zu boykottieren. Habermas selbst hatte sich als kritischer Publizist einen Namen erschrieben, bevor der akademische Durchbruch kam: Seine Heidegger-Kritik brachte ihm 1953 – da war er noch nicht einmal promoviert – persönliche Diffamierungen in der „Zeit“ ein: Wer öffentlich schrieb, machte sich angreifbar – lange vor Twitter.

Angreifbar hat Habermas sich auch jetzt gemacht, und so verwundert die Gereiztheit, mit der manche Rezensenten gegen sein unverwüstlich konstruktives Projekt argumentieren. Manche Torheit mag unterhaltsamer sein als die alte Idee einer Öffentlichkeit, deren gesellschaftspolitische und staatsbürgerliche Rationalität nicht die des Marktplatzes ist, auf dem sie stattfindet. Aber gestrig wirken in der Ära der Trollfabriken eher die Scheinrealisten, die der deregulierten Plattformökonomie mehr zutrauen als Habermas der demokratischen Öffentlichkeit.

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