Die Raumfahrerin

Der Himmel ist aufgerissen, auf einer Wolke hockt eine Eule. Sie schwebt durchs Weltall und hält eine Lupe in ihren Krallen. Unter ihr: die Erde, nicht größer als ein Golfball. Hannah Höchs kunstvolle Collage entstand 1945. Von der Trümmerwirklichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit ist in der surrealistischen Montage nichts zu erkennen. Aber vielleicht wundert sich die Eule, dieser für seine Klugheit gerühmte Vogel, gerade über das, was die Menschen der Erde angetan haben.

„Abermillionen Anschauungen“ heißt die Ausstellung, die das Berliner Bröhan-Museum Hannah Höch widmet. Unter den mehr als 120 Exponaten gehört die „Eule mit Lupe“ zu den Schlüsselwerken. Weil sie die Philosophie der Künstlerin verdeutlicht, dass man die Welt immer wieder aus anderen Blickwinkeln betrachten muss, um sie zu verstehen. Höch gilt heute vor allem als Dadaistin, eine Festlegung, von der sie die Ausstellung befreien will. Denn Höch war auch Surrealistin, Expressionistin oder Konstruktivistin. Anders als viele Avantgardekünstler hat sie sich nie endgültig von der Gegenständlichkeit abgewandt, Abstraktion hielt sie nicht fürs „Alleinseligmachende“. Die Kuratorin Ellen Maurer Zilioli spricht von einem „kalkulierten Vagabundieren innerhalb der Moderne“.

Wie divers und heterogen Höchs Werk ist, zeigt sich gleich im Eröffnungssaal der Ausstellung. Da rahmen eine aus Kreisen und Kreissegmenten zusammengesetzte „Collage mit Pfeil“ (1919) und eine lichtdurchflutete, Priester und Palmen zeigende Ansicht von „Rom“ (1921) ein veristisches Bleistift-Selbstbildnis (1917). Das futuristisch anmutende Gemälde „Mensch und Maschine“ (1921) hängt neben der Collage eines großäugigen „Melancholikers“ (1925), die an eine Karikatur erinnert. „am liebsten würde ich der welt heute demonstrieren, wie sie eine biene und morgen, wie der mond sie sieht, und dann, wie viele andere geschöpfe sie sehen mögen“, hat Höch bemerkt, konsequent klein geschrieben.

Die Tochter eines Versicherungsdirektors und einer Hobbymalerin, 1889 in Gotha geboren, hatte 1912 eine Ausbildung an der Berliner Kunstgewerbeschule begonnen. Später wechselt Höch in die Grafik-Klasse des Kunstgewerbemuseums, wo Emil Orlik ihr Lehrer wird. In Berlin findet sie Anschluss an den „Sturm“-Kreis um den Avantgarde-Galeristen Herwarth Walden, lernt George Grosz und Raoul Hausmann kennen.

Mit Hausmann verbindet sie eine jahrelange Liebesbeziehung. Das Gemälde „Die Braut“ (1924-27) ist ihr sarkastischer Abgesang auf die Liaison. Stocksteif im Smoking steht der Bräutigam neben seiner Braut, die den Kopf einer Porzellanpuppe trägt. Blumen, ein tränendes Auge und ein Embryo umschwirren das Paar. Zur Ehe kam es nicht, weil Hausmann seine wohlhabende Frau nicht verlassen wollte. Er drängte Höch zu zwei Abtreibungen.

Die Ausstellung präsentiert ornamental verschlungene Tapetenentwürfe aus Höchs Ausbildung, bald darauf entstehen erste Collagen. Die Technik war ihr nicht neu, ihre Eltern waren bei der Erziehung den Leitsätzen des Reformpädagogen Friedrich Fröbel gefolgt, der Klebebilder und Baukastenspiele zur Förderung der kindlichen Kreativität empfahl. Mit ihren Montagen steigt Höch zu einer festen Größe des Berliner Kunstbetriebs auf. Sie tritt der radikalen Novembergruppe bei, nimmt an der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ tei. Ihren Lebensunterhalt verdient sie in der Handarbeitsredaktion des Ullstein Verlags. Geld verdient sie auch mit der Gestaltung von Buchcovern, Plakaten und Anzeigen.

„Ich war zu keiner Zeit links oder rechts, ich war immer weltbetrachtend“, hat Höch gesagt. Die Künstlerin besaß eine umfangreiche philosophische Bibliothek mit Büchern von Nietzsche bis Spinoza, interessierte sich fürs Kino, Astrologie und den Ausdruckstanz. Am Ende ihres Lebens begeisterte sie sich für die Raumfahrt. Manche ihrer Werke wirken wie Science-Fiction. Die „Symbolische Landschaft III“ (1930) zeigt eine lebensfeindliche, rot glühende Wüste, in der stachelige Pflanzen aufragen. Im Vordergrund liegt eine puppenhafte Frau, deren Bauch zwei Babys entsteigen. Das Gemälde erinnert an die wuchernden Phantasielandschaften von Max Ernst. Höch sieht in ihm einen „Seelenverwandten“, schreibt ihm in einem Brief, dass der Surrealismus für sie „der Faden“ geworden sei, „der allein durch alle Wirrnisse hielt“. Abgeschickt hat sie den Brief nie.

Seitdem sie sich mit Kollegen aus der Gruppe De Stijl angefreundet hat, ist Höch oft in den Niederlanden. 1926 verliebt sie sich in die Schriftstellerin Til Brugman, mit der sie in Den Haag lebt, Reisen nach Paris, Italien, in die Schweiz unternimmt. Die Beziehung hält bis 1935. In Deutschland gilt Höch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als „Kulturbolschewistin“. Ihre Kunst, die als „entartet“ diffamiert wird, darf nicht mehr ausgestellt werden.

Zu den beeindruckendsten Stücken der Retrospektive zählt ein Selbstporträt von 1937. Höch blickt dem Betrachter direkt in die Augen, sie trägt einen Malerkittel, in der Hand hält sie Pinsel und Palette. Die Botschaft lautet: Ich bin und bleibe eine Malerin. Sie arbeitet für die Schublade, zu den schon vorher auf ihren Bildern omnipräsenten Augen kommen Masken hinzu, mit bedrohlicher Bedeutung. Unter Beobachtung steht die unangepasste Künstlerin gewiss, sie muss sich vor Denunzianten hüten. Die bereits 1931 entstandene Collage „Flucht“ wirkt wie eine Prophezeiung. Da setzt sich ein Mischwesen – halb Frau, halb Affe – mit weitausholenden Schritten in Bewegung, verfolgt von einem diabolischen Schwan.

Mit ihrem neuen Lebensgefährten und bald auch Ehemann Kurt Matthies, einem Geschäftsreisenden, ist Höch rastlos in halb Europa unterwegs. Als der Zweite Weltkrieg beginnt und die Grenzen geschlossen werden, muss sie sich wie in einer Mausefalle fühlen. Höch zieht sich in ein ehemaliges Flugwärterhäuschen in Berlin-Heiligensee zurück, das sie 1939 mit Mitteln aus dem elterlichen Erbe erwirbt. In den Kriegs- und Trümmerjahren danach ernährt sie sich von Obst und Gemüse, das sie im Garten anbaut. Die Scheidung von Matthies erfolgt 1944. Das Haus bleibt bis zu ihrem Tod 1978 ihr Refugium.

„Abermillionen Anschauungen“ – das Zitat stammt von Höch – führt durch ein Lebenswerk, das vielfältiger kaum sein könnte. Munter springt die Künstlerin zwischen den Stilen hin und her, ihre Kunst folgt dem Prinzip einer ewigen Metamorphose. Nicht alles ist gelungen, ihre Abstraktionen der 50er Jahre wirken epigonenhaft. Doch immer wieder war sie ihrer Zeit voraus, etwa 1970 mit der Großcollage „Die Stadt“, bei der sich wie in einer Computergrafik zwei Raster übereinanderlegen. Wer glaubt, Hannah Höch zu kennen, der wird sich wundern.

Bröhan-Museum, Schloßstraße 1a (Charlottenburg), bis 15. Mai. Der Katalog (Wienand Verlag) kostet 32 €.