Augen auf, hier kommt der Sandman

Ein Juniabend des Jahres 1916, Wych Cross, England. Der Sektenführer Roderick Burgess will mithilfe eines schwarzmagischen Rituals den Tod beschwören. Das okkulte Experiment schlägt fehl, statt Death landet Dream in den Fängen von Burgess und seinen Anhängern.

Dream, der so etwas wie ein Gott ist, hat viele Namen: Morpheus, Herr der Träume, Sandman. Die Auswirkungen der Gefangenschaft von Dream sind katastrophal. Eine mysteriöse Schlafkrankheit breitet sich aus, lässt die Menschen nicht mehr aufwachen, rafft sie schließlich dahin.

Die „The Sandman“ betitelten Comic-Hefte, die von 1989 bis 1996 monatlich erschienen, stellten sich für den Verlag DC Comics als Überraschungserfolg heraus. Die Serie erhielt Dutzende Branchen-Auszeichnungen und gilt als einflussreichster Comic der 90er Jahre.

Geschrieben vom britischen Autor Neil Gaiman („Coraline“, „American Gods“) und illustriert von einer Reihe unterschiedlicher Zeichnerinnen und Zeichner, ging die Reihe visuell und erzählerisch weit über das hinaus und war aufregender und erwachsener als das meiste, das man damals Ende der 1980er Jahre im Comic gesehen hatte.

Das zeichnete sich bereits in den ersten Heften ab, die als Sammelband unter dem Titel „Präludien & Notturni“ (Panini Comics, 240 S., 19,99 €) veröffentlicht wurden. Als „eines der besten Comic-Werke, die es überhaupt gibt“ bezeichnet Karen Berger, die ehemalige Chefredakteurin des mittlerweile eingestellten DC-Labels Vertigo, die Reihe im Vorwort dieses Bandes.

Traumbilder und realistischere Darstellungen verschmelzen miteinander

Da wären einmal die von Dave McKean gestalteten Cover, für die der britische Künstler verschiedene Techniken miteinander verknüpft: Illustration und Malerei, Fotografie und Bildhauerei.

Eine weitere Szene aus „Präludien & Notturni“.Foto: Panini

Dann die großartigen Zeichnungen von Sam Kieth, Mike Dringenberg und Malcolm Jones III., die vor allem die ersten Folgen prägten. Sie und Gaiman toben sich in der Anordnung und Ausgestaltung der Panels aus, die durch viele zeichnerische Details bestechen. Es ist auch 30 Jahre später noch zum Schaudern, wie viel nackte Angst und Schrecken man in ein Augenpaar zeichnen kann, und wie monströs und dämonisch Gaimans Hölle daherkommt.

Die Bilder vermitteln eine große Bandbreite an Leid und Schrecken, oftmals in Form von Collagen. Viele Darstellungen arbeiten mit Mitteln des Magischen Realismus, immer wieder verschmelzen Traumbilder und realistischere Darstellungen miteinander.

Tödlich geschwächt gelingt dem Herrn der Träume die Flucht aus der Gefangenschaft. Dabei wurden ihm jedoch drei wichtige Dinge gestohlen, die er braucht, um über das Reich der Träume zu herrschen: eine Tasche voll Traumsand, ein Helm, und ein roter Rubin, das Juwel der Träume. In diesen Dingen steckt viel Macht, die dem geschwächten Morpheus nun fehlt, und nur vollständig ausgerüstet kann er zu seiner alten Größe zurückfinden.

Hier wird eine Besonderheit von Gaimans Erzählstil deutlich. Der gottgleiche Dream ist zwar durchaus auf Rache aus, wird aber nicht von ihr zerfressen. Auch bei gefährlichsten Gegnern wird zuerst das Gespräch gesucht, und kommt es schlussendlich doch zum Kampf, findet der in der Traumwelt statt. Gaiman mag seine Figuren und machte Dream zum gruftigen Liebling vieler Leser.

Hommage an David Bowie

Besonders beeindruckend ist das vierte Kapitel, „Hoffnung in der Hölle“: Dream begibt sich in das Reich seines Bruders Luzifer Morgenstern, der im Comic aussieht wie David Bowie. Dort wird das Publikum mit einem doppelseitigen Wimmelbild belohnt, auf dem sich zigtausende Höllenbewohner tummeln: triefende, tropfende Monster mit zig Augenpaaren und Dämonen jeder Art. Im Verlauf des Kapitels muss sich Dream dem Kampf mit einem Höllendämon stellen, dieser Kampf ist aber kein herkömmlicher, so viel sei verraten, und genau deswegen umso unterhaltsamer.

Foto: Panini

All das tröstet über die manchmal ein wenig ungelenk daherkommende deutsche Übersetzung hinweg. Doch wer sich auf eine Reise in die Traumwelt einlässt, wird reich entlohnt. Die Mischung aus grundsolider, düsterer Fantasy, purem Horror und nackter Angst erweist sich als exzellenter Klebstoff, der die Traumwelt, das Reich von Morpheus, Dream, mit der „echten“ Welt verbindet.

[Mehr über „Sandman“ und Neil Gaiman in weiteren Tagesspiegel-Artikeln: Wie Neil Gaiman Schneewittchen zu neuem Leben erweckt, #Vertigone, Traumdeutung, Horror in einer Faust voller Staub.]

Im Gegensatz zum gewaltigen Erfolg der Reihe im englischsprachigen Raum steht die in Deutschland bislang eher verhaltene Popularität der Comics. Das könnte sich gegen Ende dieser Woche zumindest ein wenig ändern: Am 5. August startet auf Netflix eine Adaption der Serie.

Daran war als ausführender Produzent auch Neil Gaiman beteiligt, der von sich selbst sagt, dass er in den vergangenen 30 Jahren damit beschäftigt war, schlechte Verfilmungen seines Epos zu verhindern. Mit dieser Adaption scheint er dagegen sehr glücklich zu sein. Vor einigen Tagen schrieb er auf Twitter: „Ich habe mich nie zuvor so sehr darauf gefreut, dass Menschen etwas sehen, das ich gemacht habe.“