Mut zur Lücke
Liebermann-Villa, Colomierstr. 1, bis 6. Juni; Mi bis Mo 10 – 18 Uhr.
Auf dem Tisch steht die dampfende Suppe. Eine Frau und zwei Männer beugen sich über ihre Teller. Der Hintergrund links ist fast schwarz und lässt nicht erkennen, was sich am Bildrand abspielt. Der Dampf ähnelt eher fester Materie als Nebel. In der Ausstellung der Liebermann-Villa am Wannsee „Schwarz-Weiß. Liebermanns Druckgraphik“ kann man Liebermann als Lernenden erleben – und feststellen: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.
Der Maler, der so sicher den Dunst über der Nordsee darstellen kann oder die duftigen Beete in seinem Garten am Wannsee, der ein Auge für die Arbeit auf dem Land hat und die Eleganz in der Stadt, ringt zunächst mit dem Medium der Grafik. Für das Publikum ist diese Suche ein Gewinn, denn die Unvollkommenheit schult den Blick. Zumal die Ausstellung zum 175. Geburtstag des Künstlers am 20. Juli anschaulich die unterschiedlichen Drucktechniken erklärt. So lässt sich nachvollziehen, mit welchen Besonderheiten Liebermann bei Radierung, Lithografie oder Holzschnitt konfrontiert war.
Der Künstler begann Mitte der 1870er Grafiken nach eigenen Gemälden herzustellen. Als er nach dem Studium fünf Jahre in Paris lebte, bat ihn die Zeitschrift „Gazette des Beaux Arts“ um eine Reproduktion seines Gemäldes „Die Geschwister“ von 1876. Liebermann schätzte an der Grafik die Möglichkeit, sein Werk weiter zu verbreiten und ein anderes Publikum zu erreichen. Am Ende war er mit dieser Strategie so erfolgreich, dass sich vor 1933 in allen größeren Sammlungen Grafiken von ihm befanden. Die aktuelle Ausstellung entstand aus der Sammlung der Fördergesellschaft der Liebermann-Villa, die seit 1995 besteht.
In der Ausstellung begegnet man auch dem kriegsbegeisterten Liebermann
Als Sensation kam kurz vor der Eröffnung eine anonyme Spende ins Haus: ein Lithografiestein mit einer Zeichnung Liebermanns. Eine Rarität, denn meist wird der Stein neu geschliffen und wiederverwendet. Lithografie – die Zeichnung mit dem Fettstift auf einem präparierten Kalkstein – fällt Liebermann sichtlich leichter. Sie ermöglicht ihm, seine fluiden Linien in Schwarz-Weiß umzusetzen.
Aber Liebermann lässt sich auch auf andere Techniken ein. Erst als er Mut zur Lücke zeigt und nicht jeden Pinselstrich von der Leinwand übersetzt, kommt Licht in die Blätter. Für „Die Netzflickerinnen“ kombiniert er Ätz- und Kaltnadelradierung, überarbeitet das Motiv immer wieder. Am Ende ist die Frau im Vordergrund noch immer ungewöhnlich dunkel. Die Wolken sehen aus wie Wattebäusche. Aber die Weite der Landschaft, die Konzentration der flickenden Frauen entsprechen der Stimmung des Gemäldes.
In der Ausstellung begegnet man auch dem kriegsbegeisterten Liebermann. Zu sehen sind zwei Lithografien von 1915 für Paul Cassirers „Kriegszeit – Künstlerflugblätter“, die der Galerist bald ernüchtert einstellte. Liebermanns Holzschnitte und -stiche entstanden in Kooperation mit Oskar Bangemann oder Reinhold Hoberg und tragen sichtlich die Handschrift der Xylografen. Der Künstler bemängelte deshalb, dass er in dieser Technik vom Holzschneider abhängig sei.
In seinem Sommerhaus am Wannsee gelingt ihm schließlich auch das Licht im Schwarz-Weiß. Die Dame in Weiß auf einer Bank hinterm blühenden Kastanienbaum vermittelt das Gefühl eines schwebenden Moments frühsommerlicher Harmonie mit der Natur.