Serie „Mein Glücksmoment“ (1): Rilke in Muzot
Schon auf der Bahnfahrt entlang des Genfer Sees kündigt sich Besonderes an. Das Blau des Wassers fließt in das Himmelblau eines späten Septembermorgens. Auf dem Weg ins Wallis bin ich noch unschlüssig, ob die leise Euphorie halten wird. Schließlich gibt es kaum etwas, das so grundsätzlich trostlos sein kann wie die Domizile berühmter Dichter; schweigende, bedrückend museale Orte.
Im Turm von Muzot, oberhalb des Städtchens Sierre, verbrachte Rainer Maria Rilke die letzten Jahre. Er starb am 29. Dezember 1926, nur 51 Jahre alt. In seiner Einsamkeitsfestung in den Weinbergen, wohin doch dann und wann auch Besucherinnen und Besucher kamen und eine Haushälterin ihn umsorgte, vollendete er in einem Schreibrausch weniger Wochen die „Duineser Elegien“ und setzte die „Sonette an Orpheus“ noch drauf. Es gibt kaum etwas Rätselhafteres und Schöneres in der deutschen Sprache. Da kommt man ein Leben lang kaum durch.
Eine Legende, ein literarischer Mythos. Der Turm stammt aus dem Mittelalter und sitzt wie ein dunkles Zeitfenster in der zersiedelten Landschaft. Zwar kann man das Gebäude nicht besichtigen, Privatbesitz, doch schon der Blick in den gepflegten, bewohnt wirkenden Garten öffnet den „Welt-Raum“, den Rilke in seinen Versen ausmaß. Ich laufe einige Male um das Grundstück herum, und das Wetter ist schön wie die Rosen im Gedicht. Schon immer einmal wollte ich Rilkes Rückzugsort sehen. Wie oft erweisen sich erfüllte Träume als Enttäuschung. Hier nicht.
Als Rainer Maria Rilke im Februar 1922 sein großes Werk vollbracht hatte, schrieb er in einem Brief an seine Freundin Lou Andreas-Salomé: „Was ist Zeit? Wann ist Gegenwart? … Ich bin hinausgegangen und habe das kleine Muzot, das mirs beschützt, das mirs, endlich, gewährt hat, gestreichelt wie ein großes altes Tier.“
Das lese ich später im Hotel nach, aber jetzt – habe ich Glück. Als könnte ich etwas mitnehmen von diesem Spaziergang, ein Gefühl für Arbeit und Rhythmus, Location und Inspiration. Glück liegt im Überraschenden, aber mehr noch in der Balance.
Rilke hat eine populäre Seite. Er wird gern zu Weihnachten zitiert, und die Herbstgedichte erfreuen sich großer Beliebtheit. „So leben wir und nehmen immer Abschied“, heißt es in den Elegien, und dann, man wagt es gar nicht auszusprechen: „Hiersein ist herrlich.“