Morsesignale von Karl Marx
Der Blick fällt zuerst auf einen Kegel. Weiß, mit Gips verspachtelt, scheint er im schmalen Treppenhaus zu schweben. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man: Der Kegel hängt an einem Drahtseil, viele Meter lang. Von oben wirkt er wie ein Objekt im freien Fall. Das viereckige Treppenhaus sieht aus wie der Rahmen um dieses schwebende Stück Weiß. Aber: Kein Kegel, kein Schneeball schwebt da. Sondern eine Abrissbirne.
So steht es im Werktitel von Susanne Ramolla. Die Potsdamerin ist eine von 40 Künstler:innen, die sich einen Betongiganten kurz hinter der Potsdamer Stadtgrenze zurzeit spielerisch erobern – nach jahrzehntelanger Funkstille. Neun Tage lang wird hier Industriebrache zum Ausstellungsareal. Die inhaltliche Klammer liest sich tagesaktueller denn je: Speichern. Getreide ist infolge des Krieges in der Ukraine knapp, die Frage nach Wärmespeichern angesichts der Energiekrise omnipräsent. Und wie lassen sich Erfahrungen bewahren, Erinnerungen, vergangene Zeiten? Auch das fragt diese Schau.
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Die Idee dazu hatte eine Gruppe Kunstaffiner vom Verein Artifact. In Potsdam kennt man den Getreidespeicher – ohne ihn wirklich zu kennen. Seit 1992 kam niemand auf legalem Weg hinein. Ein Ort für Graffiti-Sprayer und illegale Bandproben. Die Artifact-Künstlerin Jenny Alten kannte ihn seit 2006, vergaß ihn wieder. 2021 fiel er ihr wieder ein. Neun Stockwerke einer gut durchlüfteten Industrieruine: Das schien in Zeiten des Lockdowns ein idealer Ort, um so etwas wie Miteinander wieder möglich zu machen.
Wenn jetzt auf fünf Etagen und 1800 Quadratmetern Kunst zu sehen ist, dann geht es den Künstler:innen nicht nur um die Öffentlichkeit, die herzlich eingeladen ist, sondern ebenso sehr um einander. Um den Austausch, um das Festigen von durch die Pandemie brüchig gewordenen Netzwerk – oder neu flechten. Dafür stehen Werke von Künstler:innen aus der Ukraine, die inzwischen in Potsdam arbeiten: Artem Voloktin, Tetiana Malinovska, Anna Moskalets und Valeriia Buchuk.
[ Bis 11.9. Getreidespeicher, Ladestraße 1, Bergholz-Rehbrücke, tgl. 12 bis 19 Uhr. Reservierung auf www.eventbrite.com nötig.]
Susanne Ramollas Abrissbirne entstand 2021. Die Künstlerin selbst sieht ihre Arbeit als „Sinnbild für das hinterlassene Brachland eines Covid-19-Planeten“. Hier aber, im über 30 Meter hohen Turm eines Getreidespeichers des VEB „Kombinat Fortschritt Landmaschinen“, diesem gigantischen Betonbauwerk aus den sechziger Jahren, seit drei Jahrzehnten ungenutzt, evoziert die Abrissbirne auch die Fragilität politischer Systeme, die in Beton gemeißelt schienen.
Vor dem tatsächlichen Abriss ist der monumentale Getreidespeicher geschützt: Er ist Industriedenkmal. Als er 1963 errichtet wurde, war er ein Prototyp, „ein Exportschlager“, sagt Jenny Alten, die sich mit der Geschichte des Ortes befasst hat. Die monumentale Höhe des Baus war durchaus politisches Statement: Die DDR zeigte hierin das Vertrauen in die eigene Wirtschaftskraft. Und die war natürlich von der Ideologie des „Arbeiter- und Bauernstaates“ nicht zu trennen.
Früher konnten in dem Speicher drei Kilotonnen Getreide bearbeitet werden, über gewaltige Rohre wurden sie nach oben geblasen und getrocknet. Es muss unglaublicher Lärm geherrscht haben. Als die Leute von Artifact herkamen, störte nur Taubengurren die Stille. „Dieser Kontrast hat mich interessiert“, sagt der Potsdamer Künstler Udo Koloska. Er sieht in der Architektur des Silos die „materielle Manifestation von menschlichen Ideen, sozialen Utopien.“ Seine Arbeit, sagt er, ist „eine Form sinnlicher Archäologie“.
Gute Laune trotz ideologischem Ballast
An einer riesigen, rostigen Getreidetrocknungsmaschine hat Koloska über Magnete und Kabel einen Morseapparat befestigt. Mal zögernd, mal pulsierend sind Töne zu hören, verstärkt vom Resonanzraum des Trockners. „Es ist das ins Morsealphabet übersetzte Kommunistische Manifest“ von Karl Marx. Eine Arbeit, die tief hineinlauscht in den ideologischen Ballast, der auf diesem Gebäude lastet – und die trotzdem gute Laune macht. Die zeigt: Es ist Musik im alten Blech.
Auch Markus Große schaut spielerisch zurück. Seit 2019 sammelt er Ausgaben des Druckwerks, das in der DDR womöglich am weitesten verbreitet war: „Weltall Erde Mensch“, von 1954 bis 1974 vorwiegend zur Jugendweihe überreicht. Über 90 hat Große bei Ebay erstanden. Sie liegen verpackt, fein säuberlich gestapelt, auf dem Boden. „Eine Arbeit über die Ästhetik des Sammelns und die Lust der Reihung“, schreibt Große dazu. „Über das Prinzip Kunst und über die Frage, welche physischen und geistigen Dimensionen die Realität, die Wahrheit einer Sache konstituieren.“ Auch er ein Archäologe. Wie Felix Becker. Er beschäftigt sich mit Überbleibseln anderer Art. In der Mitte eine Skulptur aus Holzteilen: einstige Obstkisten. Man ahnt Beine, einen Leib, einen Panzer vielleicht. Käfer, Amöbe, Roboter? Ein Wesen auf Nahrungssuche? Beckers monochrome Bilder stehen in scheinbar krassem Gegensatz zur Skulptur. Zwei Flächen aus Ölfarben, Schwarz und Weiß. Die Hauptrolle spielt auch hier aber die Textur. In die schwarze Oberfläche ist ein Eichhörnchen eingeritzt. Die weiße Fläche weist Spuren und Kratzer auf, wie Wunden. Sie erinnert an alte Wände, von denen die Farbe abgeplatzt ist. Zeigt, dass unter jeder Schicht eine weitere liegt.
“Menstruation Manual”
Viele Arbeiten sind extra für diesen Ort entstanden. Die syrische Künstlerin Sana Al-Kurdi hat in einer Ecke eine Videoarbeit zur Indoktrination in Syrien installiert. Jenny Alten hat zusammen mit dem Chaos Computer Club ein Pumpsystem entwickelt, das sich an den alten Röhren des Speichers orientiert: ein gigantisches Schlauchsystem, das eine phosphoreszierende Flüssigkeit durch das gesamte Gebäude jagt. „Menstruation Manual“ nennt sie das. Und oben im fünften Stock lässt Cécile Wesolowski den menschlichen Speicher schlechthin im Wind flattern: Von der Decke baumeln Windspiele, blutrote Formen, die an Gehirne erinnern. Darunter hängen silberne Papierstreifen. Wenn sie flattern, klingt es wie das Flügelschlagen der Tauben, die den Speicher so lange für sich hatten.