Der Dokumentarfilm „Mariupolis 2“ zeigt den realen Kriegshorror
Die Tauben sitzen zerrupft auf dem abgestürzten Dach. Das Haus ist nach dem Treffer einer russischen Bombe nur noch ein unbewohnbarer Haufen Schutt. Dabei wollte der Mann, der dort lebte, gerade an die Reparatur früherer Kriegsschäden gehen. Sein Nachbar fand den zerfetzten Leichnam und begrub ihn im Garten.
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Jetzt hat er sich wie viele in der Nachbarschaft vor dem andauernden Beschuss im Kellersaal einer Kirche in Mariupol Zuflucht gefunden. Von außen sieht das von zwei großen Bäumen gerahmte Backstein-Gebäude wie eine Fabrik aus. Auf dem Hof werden Trümmerreste zusammengekehrt und Suppe gekocht. Ein paar Straßen entfernt versuchen zwei Männer – vor dem Hintergrund eines verbrannten Wohnturms – einen Generator an verwesenden Leichen vorbei aus einem Haus zu schaffen.
Hanna Bilobrova und Dounia Sichov stellten den Film fertig
Die bewegte Kamera begleitet die Männer mit dem Gerät bis zum Gelände der Kirche. „Watch your step, Mantas“, sagt einer der beiden (laut der englischen Untertitel). Gemeint ist damit der Mann hinter der Kamera, der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius. Der hatte schon 2015 in der Stadt für den Dokumentarfilm „Mariupol“ gedreht.
Er wollte damit den in der Region Donezk wütenden Krieg und die davon betroffenen Menschen der Welt nahe bringen. Als Kvedaravičius im März 2022 von der sich verschärfenden Situation in der Stadt erfuhr, brach er spontan die Dreharbeiten an einem Spielfilm in Uganda ab und reiste mit seiner ukrainischen Partnerin abermals nach Mariupol.
Sie wollten den Menschen helfen, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt kennengelernt hatten – und die filmische Arbeit von damals fortsetzen. Doch schon nach einigen Wochen wurde Kvedaravičius am 30. März dieses Jahres (nach in Details differierenden, im Wesentlichen aber übereinstimmenden Berichten von Mitarbeiterinnen, Freunden und Kollegen) von russischen Soldaten erst festgesetzt und dann ermordet.
Mantas Kvedaravičius nahm diese Gefahren bewusst in Kauf. Es war ihm ein Anliegen, das Geschehen in den abgeriegelten Kriegsgebieten aus der Perspektive direkter Anteilnahme zu zeigen.
Dass es nun trotz seines gewaltsamen Todes zu diesem Film kam, ist dem Einsatz von Menschen aus seinem Umfeld zu danken. Sie sichteten das gesammelte Material und brachten es in eine vorsichtig bearbeitete Form. Entscheidend beteiligt waren seine Partnerin Hanna Bilobrova und die befreundete Editorin Dounia Sichov, die Mantas Kvedaravičius im Abspann des Films den Credit als Regisseur geben und sich selbst als Assistant Directors bezeichnen.
[In Berlin im Delphi Lux und im Wolf Kino]
Sie organisierten Bilder und Töne zu einem 150 Minuten langen Film, dem neben einer direkten Widmung an Kvedaravičius auch in der zurückhaltenden Montage mit vielen langen Einstellungen der Respekt vor dem Vermächtnis des getöteten Filmemachers anzusehen ist. Anerkennenswert ist auch die Geste des Filmfestivals von Cannes, das die Arbeit im Mai in letzter Minute außer Konkurrenz in das Programm aufgenommen hatte.
Der Film zeigt beklemmende Bilder. Man begegnet Menschen, die im beginnenden Frühling brutal in den Abgrund gerissen werden. Und man sieht einen Ort, der flächendeckend in Trümmern liegt. Dabei geht der Breitwand-Blick der Kamera auch immer wieder in Totalen aus den Fenstern über zerstörte Dächer in die Ferne, wo der gigantische Komplex des belagerten Asow-Stahlwerks und andere Industrieanlagen zu sehen sind.
Manchmal zoomt die Kamera besessen wie in einem Horrorfilm herum – und manchmal sieht die weite Stadtlandschaft im Abendlicht sogar romantisch aus und die am Horizont entlang rasenden Raketen wie glitzernde Sternschnuppen.
Doch da ist der heftige Gefechtsdonner, der den Film seit der ersten Minute durchzieht und auch im Kinosessel schmerzt. Nah und fern lodern immer mehr Feuer und Geschwader schwarzer Rauchsäulen wachsen in den Himmel. Am Ende drängt ein Vertreter der Kirche die ins Gotteshaus Geflüchteten zum Fortgehen. Doch wohin?