Die Logiken des Pathologischen

Die Klage über den Bedeutungsschwund der Soziologie kam schon in den 1980er in Mode, als sich die Disziplin aus dem Modus der Welterklärung in Bindestrich-Nischen und die empirische Forschung verabschiedete. Nach dem scheinbaren Siegeszug des universalen Kapitalismus und der Rede vom „Ende der Geschichte“ geriet die Geschichtsphilosophie in Bedrängnis und mit ihr die Kategorie Gesellschaft. Statt normativer Gesellschaftstheorien schickten die prominenten Vertreter des Fachs nun „Sozialtheorien“ auf den Weg, ganz im Sinne der neoliberalen Wende, die Margret Thatcher einst auf die Formal brachte: „There is no such thing as society, only individual men and women and their families.“

Doch mit den großen Krisen – angefangen beim Finanzcrash 2008 – scheinen Bedürfnis und Nachfrage nach Gesellschaftstheorien wieder virulenter geworden zu sein, im diffusen Gefühl, dass die einzelnen Phänomene eine gemeinsame, kritisch zu erhellende Wurzel haben könnten. Diesen „Formationen“ des Gesellschaftlichen sind Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa auf je eigenen Pfaden schon länger auf der Spur. Nun haben sie das Wagnis unternommen, ihre Erkundungen in einem Buch zusammenzuführen, das programmatisch nach der „Leistungsfähigkeit der Gesellschaftstheorie“ fragt. In „Spätmoderne in der Krise“ führen sie ihr bereits zu Studienzeiten aufgenommenes Gespräch fort.

[Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 310 Seiten, 28 €.]

Schon der im Titel anklingende Gegenstand ist vage. Was ist unter dem schillernden Begriff Moderne zu verstehen? Handelt es sich um eine abgrenzbare Epoche mit Gesetzmäßigkeiten, die sich in evolutionären Schüben vollziehen oder um eruptive Neuerungen? Gibt es die eine Moderne westlicher Prägung oder muss man von vielen Modernen sprechen? Übereinstimmend sehen beide Autoren die Modernität gegenwärtiger Gesellschaften darin, dass sie gestaltbar und transformationsfähig ist, ihr somit Geschichtlichkeit eingeschrieben ist.

Brüche im Kontingenten

Während sich der in Berlin lehrende Reckwitz gerade für die historischen Verläufen und Brüchen dieses kontingenten Gebildes interessiert, ist der Jenaer Soziologe Rosa auf die strukturellen Gesetzmäßigkeiten und Umschlagpunkte im Prozess fokussiert. Im Gegensatz zu früheren Modernisierungstheorien, die von einer selbstgewissen Fortschrittslogik der Moderne geprägt waren, rechnen die beiden, wie Reckwitz, die Verlustbilanzen der Spätmoderne auf oder attestieren ihr, wie Rosa, eine durch überbordende Verausgabung umfassende Erschöpfung.

Der zentrale Bewegungsmodus „heißer Gesellschaften“, die sich durch eine „Kontingenzkultur“ auszeichnen, besteht für Reckwitz in der Dialektik von Kontingenzöffnung und -schließung, von Freiheit und Zwang. Im Willen, festgefügte Strukturen aufzubrechen und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen, gerät die alte Ordnung in Bewegung, bis sich eine neue etabliert und ein erneuter Schließungsprozess vollzieht. Moderne Gesellschaften unterliegen also einer Dauerrevision, bewegt von einem „doing and undoing order“, von Kritikbewegung und vorübergehender Strukturberuhigung.

Dabei wird die soziale Praxis von unterschiedlichen Kräften „formatiert“, die sich ergänzen oder widersprechen. Während in der Sphäre der Ökonomie und Politik eher das Rationalisierungs- und Generalisierungsparadigma vorherrscht, in der Subjekte unter Optimierungsaspekten (vorgeblich) rationale Entscheidungen treffen, wird die Sphäre der Kultur von Singularitäts- und Wertsetzungsbestrebungen dominiert, die insbesondere in der Spätmoderne hervortreten, wie Reckwitz in seiner Untersuchung „Die Gesellschaft der Singularitäten“ gezeigt hat. Der Wunsch nach Einzigartigkeit und Authentizität sind hier die Triebkräfte, wobei sich die Kulturen des Allgemeinen und des Besonderen auch überschneiden können, wie das individualisierte selbstoptimierte Subjekt zeigt.

Reckwitz’ Überlegungen sind streckenweise ein wenig lehrbuchhaft gehalten, praxeologisch unterlegt und folgen der Vorstellung, dass gesellschaftliche Strukturen nicht nur durch bewusste Handlungen sondern auch durch „gemachte“ Körper (wie wir es vom „doing gender“ kennen) und implizites Wissen hervorgebracht werden.

Gewinner mit Zwängen

Die Effekte dieser Praxis, im Idealfall geglückte Innovation, zeitigen jedoch auch Verluste („doing loss“), die von beruflichen Entwertungsprozessen über Identitätseinbußen bis zur Enttäuschung und Furcht reichen, sich selbst nicht „optimal“ und „singulär“ in der „professional class“ zu positionieren und in der „service class“ zu enden. Aber auch die „Gewinner“ sind neuen Zwängen ausgeliefert, die sich zu Sinnkrisen auswachsen können.

In der Diagnose trifft sich Reckwitz mit Rosa, der sich mit etwas mehr konkreter Beschreibungsfreude um einen „best account“ bemüht. Das vorherrschende Kennzeichen „der Moderne“, so Rosa, sei ihr intrinsischer Beschleunigungs- und Innovationstrieb. Im Modus der immerwährenden Steigerung und Überbietung trachtet sie – wie ein beschleunigtes Fahrrad – nach „dynamischer Stabilisierung“, mit dem Risiko, zu schnell geworden, auch gegen einen Baum zu fahren. Der endogene Beschleunigungsfuror kann indes nur aufrechterhalten werden durch die Bewegungsenergie der Subjekte.

Doch was, fragt Rosa, treibt diese zur permanenten (Selbst)mobilisierung? Das Weltverhältnis der Menschen, ein weiterer zentraler Begriff, werde kanalisiert vom Begehren nach größerer Weltreichweite, nach Möglichkeitsvielfalt und Verfügungsgewalt, aber auch von der Angst, auf dem Weg nach oben steckenzubleiben oder abzustürzen.

Die ihre Bestandsbedingungen missachtende, beschleunigte Gesellschaft droht ökologisch, politisch und mental aus dem Gleis zu geraten, und die Subjekte erleiden, überhitzt und überfordert, einen radikalen Wirksamkeitsverlust. Ein ausgeschlachteter Planet, eine funktionsunfähige Demokratie und ein ausgepowertes und depressives Subjekt sind die Folgen dieser Entfremdung.

In der Nachfolge der Kritischen Theorie

Dieser nicht grundlos der marxistischen Theorie entlehnte Begriff weist Rosa im Unterschied zu Reckwitz als erklärten Nachfolger der Kritischen Theorie aus, wie in dem den Band abschließenden, ein wenig insiderisch wirkenden Interview mit dem Sozialphilosophen Martin Bauer deutlich wird.

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In der Beschreibung der Pathologie der Spätmoderne stehen sich die beiden Soziologen nah, in ihrer Haltung als beobachtende beziehungsweise eingreifende Kritiker weniger. Während Reckwitz’ zurückhaltende „kritische Analytik“ die entlarvende „Hermeneutik des Verdachts“ von sich weist und sich aller Ratschläge enthebt, wagt sich Rosa mit einer von ihm so genannten „Therapie“ aus der Deckung. „Adaptive“, also „vernünftige“, nicht vom Konsumentenmarkt getriebene, sondern aus den Produktionsverhältnissen erwachsende „vernünftige“ Steigerung und „Resonanz“ auf allen Ebenen sind die Ingredienzen seiner Medizin. Eine Gesellschaft, in der hohes Konsumniveau durch entfremdete Arbeit erkauft wird, so seine Diagnose, kann kein „gutes Leben“ hevorbringen.

Misst man die Befunde an Reckwitz’ Maßstab, nach dem die Qualität einer Theorie nicht an „Wahrheit“ oder „Widerspruchsfreiheit“, sondern an „Novität“ zu bestimmen ist, schöpfen Leitbegriffe wie Kontingenz oder Desynchronisation, um nur zwei Beispiele zu nennen, zwar aus Quellen von Vordenkenden, sind in ihrer kreativen Zusammenschau und Anwendung auf die Spätmoderne aber durchaus erhellend sind. Wer Theorie ohnehin nur als „Werkzeug“ und nicht wie Reckwitz als geschichtsmächtiges Telos versteht, braucht den Gebrauch nicht zu scheuen, sofern sie Erkenntnis stiftenden Nutzen verspricht.