Die Religion stirbt nicht, sie verwandelt sich nur

Sie verabreden sich zu einer Pilgerreise, nehmen Plakate, Fahnen und Instrumente mit, ihre Kleidung ist uniform. Aus allen Himmelsrichtungen strömen sie auf einen großen Platz, der für sie ein heiliger Rasen ist. Dort jubeln sie ihren Idolen zu, nehmen Anteil an deren Schicksalen, erzählen sich anschließend deren Geschichten, singen Lieder. Die Geschichten, die sie sich erzählen, handeln von Glück und Leid, Schmerz und Freude.

 Die Rede ist von ganz normalen Fußballfans in der Vor- und Nachcoronazeit. Das Spiel ist ihr Gottesdienst, sie selbst sind die Gemeinde. Es gibt treue Fans und fanatische Fans, viele trotzen den Witterungswidrigkeiten, dulden Mühsal und Entbehrung. Sie bilden eine emotional verbundene Gemeinschaft, deren Mitglieder sich auf Anhieb erkennen und respektieren. Ihre Herzen brennen für eine gemeinsame Sache.

 Lebt in der Fußballfankultur ein Stück Religiosität? Der Vergleich mag hinken, doch er humpelt nicht. Dem Fußballfan fehlt zwar der Bezug aufs Transzendente, auf Glaubensinhalte und Normen. Seine Hingabe ist substanziell verschieden von der eines Gläubigen. Aber die Praktiken ähneln sich. Den sie Ausübenden geben sie Sinn, Struktur, Halt und Orientierung.

Ein konfessionsloser gesellschaftlicher Raum

Lange Zeit dachte man, dass christliche Religiosität in Deutschland langsam verschwindet, sich restlos auflöst in einem aufgeklärten Säkularismus. Im Jahr 1950 gehörten noch mehr als 95 Prozent der Deutschen in Ost und West einer der beiden christlichen Konfessionen an, waren evangelisch oder katholisch. Nach der Wiedervereinigung waren es 72 Prozent, heute sind es 51 Prozent.

 Eine Studie im Auftrag der christlichen Kirchen prognostiziert eine Halbierung der verbliebenen Kirchenmitgliedschaften bis zum Jahr 2060. Stark rückläufig sind auch die Zahlen von Taufen, Konfirmationen, Kommunionen, Firmungen, Gottesdienstbesuchen, christlichen Hochzeiten. Theologen sprechen von einer Expansion areligiöser Milieus und der ungebremsten Ausdehnung eines konfessionslosen gesellschaftlichen Raumes.

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 Doch offenbar verschwindet die Religion nicht einfach, sondern geht, jedenfalls funktionell, in neuen Formen auf. In der Rhetorik der Klimaschützer etwa lässt sich das an diversen Denkmustern verdeutlichen: Durch seine eigene Sündhaftigkeit wird der Mensch von einer Tragödie apokalyptischen Ausmaßes bedroht. Sie zwingt ihn zur Umkehr. Die Bewahrung der Schöpfung wird zur obersten Maxime. Der Handel mit Emissionszertifikaten erinnert an den Ablasshandel. Wer sich fleischarm, vegetarisch oder gar vegan ernährt, demonstriert seine ganz persönliche Umkehrbereitschaft, seine Läuterung, seinen Verzichtswillen.

Wenn die Apokalypse droht, geschieht Handeln im Panikmodus

 In der Klimaschutzbewegung kommen Mission und Moral perfekt zur Entfaltung. Das erklärt bestimmt ihrer Rigorismen und Kompromisslosigkeiten. Jede Maßnahme, die getroffen wird, bleibt ja angesichts der Größe des drohenden Unheils ungenügend. Weil es weder einen Plan B noch einen zweiten Planeten gibt, muss jedes Handeln im Panikmodus angeordnet werden. Aber Politik besteht nun mal in der Kunst, ein “entweder-oder”, das nur Sieger und Verlierer kennt, in ein “mehr-oder-weniger” zu verwandeln.

 Die jüngste Form des religionsersetzenden “entweder-oder” findet sich in der Identitätspolitik, die Menschen und ihre Ansichten nach Gruppenzugehörigkeit definiert. Da ist auf der einen Seite der Tätertypus des alten weißen Mannes, in dem, zumindest latent, ein Unterdrücker, Kolonialist, Rassist und Patriarch steckt. Er verteidigt grundsätzlich seine Macht und Privilegien und verwehrt sie marginalisierten Gruppen. Da ist auf der anderen Seite ebenfalls der alte, weiße Mann, aber diesmal als Opfertypus, weil seine Sprache und Normen, Traditionen und historische Bezugsgrößen angegriffen und verächtlich gemacht werden.

Eine Schülerin trägt während einer Demonstration von “Fridays for Future” ein Band mit der Aufschrift “Save the World” auf ihrer…Foto: Hendrik Schmidt/zb/dpa

 Beide Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Schnittmenge ihres gemeinsamen Kommunikationsraumes ist klein und wird nicht von Argumenten geprägt, sondern beherrscht von der Frage, wer gerade spricht. Ist es das Opfer oder der Täter?

Auch Rechte können sich durch Partikularinteressen definieren

Entstanden ist die Identitätspolitik in den USA. Der Begriff war ursprünglich ein Schimpfwort von Rechten, die Linksliberalen vorwarfen, sich zu viel um Fragen der sexuellen und ethnischen Identität zu kümmern. Die Begriffe political correctness und cancel culture gehen ebenfalls in diese Richtung. Allerdings dürfte spätestens seit Donald Trump gezeigt worden sein, dass Rechte sich kaum weniger intensiv durch Partikularinteressen definieren können, um die „Macht des Establishments“ zu brechen.

 Die USA sind ein stark religiös geprägtes Land. Doch auch dort lässt die Kirchenbindung nach, besonders bei weißen Protestanten. Vor 50 Jahren fühlten sich zwei Drittel der erwachsenen Amerikaner einer protestantischen Kirche verbunden, heute sind es weit weniger als die Hälfte. Die Zahl derer, die sich zu keinem religiösen Glauben bekennen, die sogenannten „Nones“, steigt dagegen rapide an. Vor 50 Jahren beschrieben sich sieben Prozent der Amerikaner als „Nones“, heute sind es bereits 20 Prozent.

 Die Washington University in St. Louis, Missouri, betreibt eine Website mit dem Titel „Religion and Politics“. Darauf wurde Mitte November 2020 eine Studie der unabhängigen „Wheatley Institution“ ausgewertet. Demnach werden die Amerikaner zwar säkularer, aber auch religiöser. Der Widerspruch löst sich auf, wenn die Intensität der religiösen Bindungen berücksichtigt wird.

Eine Art trotziger Kulturstolz

 Grob geschätzt unterteilt sich die amerikanische Bevölkerung in ein Drittel Religiöse, ein Drittel moderat Religiöse und ein Drittel Säkulare. Während die Zahl der Säkularen zunimmt, lässt sich einerseits eine Wanderungsbewegung von moderat Religiösen zu Religiösen beobachten und andererseits eine Radikalisierung der Gläubigen von religious zu intensely religious oder highly religious. Im Ergebnis wird durch diesen Trend die politische Polarisierung verschärft.

 Politik als Religionsersatz: Beim Sturm aufs Kapitol wie bei „Querdenker“-Demonstrationen wurden christliche Symbole gezeigt. Allerdings drückt sich darin weniger Frömmigkeit aus als vielmehr christlicher Selbstbehauptungswille. Es ist eine Art trotziger Kulturstolz von Nationalisten, die kaum jemals einen Gottesdienst besucht haben.

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 Politische Debatten in den USA tragen zunehmend den Charakter von Pseudo-Religionen, bilanziert der „Economist“. Ihre Vertreter seien „selbstgerecht, moralistisch, unversöhnlich“. Das gelte für progressive Utopisten auf der Linken ebenso wie für weiße Evangelikale auf der Rechten.

 Ob Denkmäler geschleift oder Straßen umbenannt werden sollen, die Schrift gegendert oder „Indianerhäuptling“ skandalisiert wird: In Debatten dieser Art fehlt oft jenes Maß an Gelassenheit, das ein Gemeinwesen braucht, um ein Gemeinwesen zu bleiben. Weder Veränderungs- noch Verharrungswille sollten in ihm verabsolutiert wird. Denn was passiert, wenn das geschieht, lehrt die Geschichte der Religionen.