Der Dokumentarfilmer Volker Koepp: Wie die Menschen wissen, wohin sie gehören
Die Mädchen-WG ist vor ein paar Stunden ausgezogen, Volker Koepp ist gerührt, wie ordentlich sie seine Wohnung verlassen hat. Dem Tonfall ist zu entnehmen, dass er mit einem gewissen Maß an Chaos gerechnet hatte und bereit war zu vergeben. Wahrscheinlich gibt es nicht viele Fast-Achtzigjährige, die ihr Zuhause einer Mädchen-WG überlassen.
Gewiss haben seine Untermieterinnen auch ratlos vor dem Foto des nicht besonders schönen Mannes am Wohnzimmerfenster vor dem Schreibtisch gestanden. Solche Bilder zeigen meist Verwandte, aber die Vermutung ist falsch, es ist der Dichter Johannes Bobrowski. Doch warum Bobrowski, müsste da nicht Uwe Johnson zu sehen sein?
Das Davor und ein Danach im Leben eines Menschen
Schließlich ist Koepps neuer Film „Gehen und Bleiben“, der seit Donnerstag in den Kinos läuft, eine Spurensuche an den Orten des norddeutschen Schriftstellers, der im englischen Sheerness on Sea starb und den man erst viele Tage später fand.
Koepp hebt schon zu einer Antwort an, aber dann tritt der Mann, der in einem Augenblick wirkt wie ein alter Seemann, um im nächsten wie die Verkörperung eines pensionierten Oberstudienrats zu scheinen – und das übergangslos – , an sein Bücherregal und zieht einen sehr schmalen Band heraus, rote Schrift auf schwarzem Leinen. Er heißt „Sarmatische Zeit“. Von Johannes Bobrowski. Auch der Zeitpunkt von Erwerb und Erstlektüre ist vermerkt: Herbst 1963.
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Da studierte der junge Maschinenschlosser Volker Koepp noch Maschinenbau in Dresden. Es gibt Bücher, die das Leben eines Menschen in ein Davor und ein Danach teilen. Dieses gehörte dazu. Der junge Bobrowski-Leser erkannte, dass es noch ganz andere Universen gab als den Maschinenbau: Sarmatien zum Beispiel und seine Zeit. „Dabei wusste kaum einer, wo das lag“, sagt der Regisseur. Wer Koepps Filme gesehen hat, ahnt es: Es sind diese Gegenden mit den sehr hohen Himmeln über sehr weiten Landschaften. Kameramann war oft Thomas Plenert.
Zwei Tage nach unserem Gespräch wird Koepp anrufen und sagen, Thomas Plenert ist gestorben. Sein Kameramann ist tot. Plenert gehörte zu jenen Kameraleuten, von denen man glaubt, dass sie die Landschaften erst schaffen, die sie fotografieren. Genau so hätte man sie sonst gewiss nie gesehen. „Es ist etwas viel gerade“, moderiert Koepp seine Erschütterung.
„Gehen und Bleiben“ handelt auch vom Ukraine-Krieg
Vor unserem Treffen sprach er mit einem Professor aus Czernowitz, der Heimat von „Herrn Zwilling und Frau Zuckermann“, Koepps vielleicht bekanntestem Film. Durch ihn weiß jetzt ein Publikum überall auf der Welt von diesen beiden alten Czernowitzer Juden und zugleich ihrer Stadt, von der wohl auch kaum einer sagen konnte, wo sie lag. „In Sarmatien natürlich“, erklärt Koepp, „früher Habsburger Reich, also in der Ukraine.“ Koepp scheint zu seinen Filmen immer auf den Spuren der Dichter zu finden. „In Czernowitz wollte ich nachschauen, wo Celan eigentlich herkam und hatte nur einen alten Baedeker von 1912.“ Herr Zwilling ergänzte, was nicht im Baedeker stand.
Seit „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ hat der Regisseur viele Czernowitzer Bekannte und Freunde, und der Nachmittag mit dem Professor hat ihn in eine Stimmung gebracht, in der man eigentlich nur noch schweigen möchte. Aber schweige mal einer erfolgreich in der Gegenwart von Journalisten!
Wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs.
Volker Koepp, Regisseur
Nie vergisst Koepp den Tag 2012 auf einer Czernowitzer Hotelterrasse, da eine Freundin ihm erklärte: „Das wird blutig enden.“ Genau zehn Jahre vor dem offiziellen Kriegsbeginn, da war die Krim noch gar nicht besetzt und Koepp drehte gerade „In Sarmatien“, auch für Bobrowski. Kameramann: Thomas Plenert.
Gleich zu Beginn von „Gehen und Bleiben“ spricht Koepp von dem „Krieg, der sich nun auf die ganze Ukraine ausgeweitet“ habe. Nein, dieser Filmemacher ist am 24. Februar 2022 nicht in einer anderen Welt aufgewacht, nur in einer tiefer verschatteten.
Weder er noch seine Mitwirkenden in „Gehen und Bleiben“ konnten diesen Krieg ignorieren. Eine Frau sagt in Film: „Wir hatten 70 Jahre Frieden in Europa.“ Vergangenheit. Die eigene Lebenszeit war also die Zeitspanne eines bloßen Interims? Dabei haben wohl fast Europäer diesen Frieden für tendenziell unendlich gehalten.
Zur Premiere seines letzten Films „Seestück“ bekam Koepp ein Buch über die Ostsee geschenkt, denn sie war seine Hauptheldin. „Und wie hieß die Ostsee früher, in der Spätantike?“, fragt Koepp und bittet vor eine alte Landkarte an der Wand. Da steht es: Oceanus Sarmaticus. Der sarmatische Ozean.
Im Buch las Koepp Uwe Johnsons minutiöse Beschreibung des Untergang des Häftlingsschiffs „Cap Arkona“ am 3. Mai 1945 vor der Lübecker Bucht. Es wurde eine Wiederbegegnung mit Johnson. Ihm schien, als habe dieser Entronnene von Hitlers Krieg sein Leben lang gegen das Vergessen anschreiben wollen, egal wo er war.
Die Wahrheit liegt in der Landschaft
Johnson hatte in New York und London gelebt, auch in Westberlin, wo er Fernsehkritiken für diese Zeitung schrieb und fiel doch später durch die Auskunft auf: „Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin.“ Das hat Koepp interessiert: Woher wissen Menschen, wohin sie eigentlich gehören? Und warum gehen dann doch so viele weg wie Johnson und kommen manchmal auch wieder und was wissen sie dann noch? Die Wahrheit in Landschaften suchen, ein verwandter Geist also. Es ist auch ein Einspruch gegen die Ortlosigkeit der globalen Welt.
Koepp versammelt viele vor seiner Kamera, etwa den Kollegen Hans-Jürgen Syberberg, der das Haus seiner Kindheit in Demmin wieder aufbaut, oder die Schriftstellerin Judith Zander, die in Anklam gegenüber dem Johnson-Haus aufwuchs. „Gehen und Bleiben“ ist ein typischer Koepp-Film. Die Menschen stehen vor seiner Kamera wie vor dem Auge Gottes und dürfen alles sagen – auch das, wovon sie bis eben gar nicht wussten, dass sie es sagen wollten.
Koepps Filme sind eigentlich filmische Meditationen, sogar sein Vielteiler über das Leben der drei Wittstocker Näherinnen Renate, Edith und Stupsy, über ein Vierteljahrhundert und zwei Gesellschaftsordnungen hinweg gedreht. Für den, der sich auf ihr Zeitmaß einlässt, wird die Welt weiter. Koepp sieht Menschen wie Landschaften. Das ist wohl der Schlüssel zu seinem Werk.
Nach 1989, als alle Ostler in den nahen und fernen Westen fuhren, nahm er die Gegenrichtung. Bobrowskis Landschaften endlich ohne offizielle Aufsicht sehen. Für ihn sind sie Begegnungs- und Versöhnungsräume. Das ist der Horizont, die letzte Utopie aller seiner Filme. Insofern ist Putin auch sein ganz persönlicher Feind. Folgte Putin seiner ureigenen Logik, müsste er Königsberg zurückgeben, überlegt Koepp, das war schließlich seit 1255 deutsch, die Krim dabei nur etwas mehr als 200 Jahre russisch.
Sarmatien, das ist alles, was zwischen Königsberg und Odessa liegt, es umfasst viele Länder. Für „In Sarmatien“ ist er diesen Weg schon einmal gefahren. Nun wollte er die Gegenrichtung nehmen. Dann kam der 24. Februar. Aber der Plan bleibt. Koepp weiß auch schon, wie der Film heißen wird: „Chronos“ wie die vergehende Zeit. Koepp führt wieder vor die alte Karte. Chronos ist der lateinische Name der Memel, Bobrowskis Fluß, an dem der Regisseur seit vielen Jahren einen Ort hat, an den er immer wieder zurückkehrt.