Viva Las Vegas an der Croisette
Die Cannes-Dramaturgie folgt in diesem – glaubt man den amerikanischen Branchen-Auguren – Schicksalsjahr für das Kino einer geradezu zwingenden Logik. Ein geschmackvolles, leider nicht durchgängig stilsicheres Arthouse-Programm wird zu Beginn und gegen Ende des Festivals gerahmt von „Top Gun: Maverick“ und Baz Luhrmanns Showrevue „Elvis“: zwei Filme, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und trotzdem alles auffahren, was das Kino an Schlüsselreizen momentan zu bieten hat (und vielleicht sogar bieten muss).
Der King of Rock’n’Roll und der King of Mash-up-Cinema – unter anderem rappt Doja Cat in einer schwindelerregenden Montage über „Viva Las Vegas“ – sind ein perfektes Match und ein dröhnender Einlauf in die Zielgrade des Festivals. Die Kalibrierung auf die ruhigeren Filme von Hirokazu Kore-eda, Albert Serra und Kelly Reichardt, die noch folgen, macht seit jeher den großen Reiz von Cannes aus.
Der Exzess von Luhrmanns Kino („Romeo und Julia“, „The Great Gatsby“) findet in der Biografie von Elvis Presley (charismatisch und sexy: Austin Butler) einen ästhetischen Resonanzraum. Der australische Regisseur kennt jedenfalls kein Halten. Selbst das Studiologo von Warner Bros ist gespickt mit Strasssteinen, bereits im Geiste des späten, dekadenten Vegas-Elvis. Widerpart – und Erzähler – ist der „Erfinder“ und langjährige Manager des Kings: Tom Hanks verkörpert im „Fatsuit“ Colonel Parker als Karriere-Mephisto. Und gegen sein Chargieren wirkt das Spiel von Butler in der Hauptrolle fast schon zurückgenommen.
Bemerkenswert ist dabei, wie ernsthaft sich Luhrmann mit der Aneignung von afroamerikanischer Musik – Blues, Rhythm’n’Blues, Gospel – auseinandersetzt. Der junge Elvis hat eine Epiphanie während der Messe eines schwarzen Predigers, er ist befreundet mit BB King und würdigt Fats Domino als Einfluss. Der Regisseur legt sogar nahe, dass die Ermordung von Martin Luther King für Presley ein persönlich einschneidendes Erlebnis bedeutete, wobei auf seine (weißen) Fans der Tod von Bobby Kennedy vermutlich traumatisierender gewirkt haben muss.
Claire Denis erstmals im Cannes-Wettbewerb
Luhrmanns Film funktioniert gewissermaßen wie die Las-Vegas-Revue-Version eines Elvis-Biopics. Ein einziger Supercut aus biografischen Momenten und Hits (teilweise gesungen von Butler selbst), der die Handlung wie ein gewaltiges Perpetuum Mobile vor sich her treibt. Selbst die Kamera emuliert diese ständige Bewegung, die unaufhaltsam auf Presleys letzte Residenz im International Hotel in Las Vegas (ein zentrales Filmmotiv) zusteuert. Was genau „Elvis“ an seiner Titelfigur fasziniert, bleibt allerdings schwer zu fassen, weil schon die irrwitzige Montage (Splitscreens, Doppelbelichtungen, Schrift über Bild) nahelegt, dass alles an Presleys Leben irgendwie gleich interessant ist.
Ein anderer Film zweiter Ordnung, aber nicht minder deliriös, ist Claire Denis’ „Stars at Noon“, in dem ein paar Gringos auf fremdem Territorium das machen, was der Westen mit ehemals kolonisierten Ländern eben so anstellt: Ressourcen ausbeuten, Wahlen manipulieren, Regierungen einsetzen. Die französische Regisseurin, die schon früher Filme über die innere wie äußere Kolonisierung gemacht hat, nimmt sich einen Roman von Denis Johnson aus den 1980ern vor und hat ihn zu einer Hommage an ein beliebtes Filmgenre der „Reagan-Dekade“ verarbeitet.
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Margaret Qualley, von Denis äußerlich ihrer Mutter Andie MacDowell nachempfunden, spielt die Journalistin Trish, die im Grenzland von Nicaragua und Costa Rica ohne Geld und Auftrag festsitzt. Sie trifft beim Warten in Hotelbars und billigen Spelunken auf allerlei zwielichtige Gestalten wie den britischen Geschäftsmann Daniel (Joe Alwyn), einen amerikanischen „Berater“ (Benny Safdie) sowie einen Mann von der costa-ricanischen Geheimpolizei (Danny Ramirez), die jeweils eigene Interessen umtreiben.
Die politische Verschwörung rückt in „Stars at Noon“ aber zunehmend in den Hintergrund, Denis und Kameramann Eric Gautier haben vor allem Augen für Qualley, die den amerikanischen Überlegenheitsanspruch mit trinkfreudiger Femme-fatale-Abgebrühtheit verkörpert. Für Denis, die gerade erst in Berlin den Regiepreis gewann, ist diese Palmen-Nominierung eine späte Entschädigung im lange schwierigen Verhältnis mit Cannes. Das Starvehikel könnte dieses Jahr das Happy-end einer schönen Festivalgeschichte bedeuten, denn das Publikum ist ihr an der Croisette stets treu geblieben.