Wenn das Geld nicht zum Wohnen reicht
In Deutschland gibt es geschätzt 50 000 Obdachlose, die Zahl steigt, auch wegen Corona. Die Miete kann nicht pünktlich bezahlt, der Kredit für die Wohnung nicht wie vereinbart bedient werden – was dann? „Wohnraum ist Gegenstand von Spekulation“, sagt Andres Lepik, Direktor des Architekturmuseums der TU München. Die Folge: „Immer mehr Menschen fallen aus dem Raster.“ Diesen Menschen wolle die Ausstellung „eine Stimme geben“.
Das ist ein großer Anspruch der Schau „Who’s next?“, die in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen ist. Ein einziges riesengroßes Foto am Eingang demonstriert – verstörend und schön –, dass nach Lösungen gesucht werden muss: Aus der Vogelperspektive ist der Platz an der Fulton Street in San Francisco zu sehen.
Auf dem Asphalt sind mit weißer Farbe Rechtecke markiert. Auf jedem steht ein Zelt, angemessener Corona-Abstand dazwischen. So leben und schlafen Obdachlose, in der US-Metropole am Pazifik reicht auch das Gehalt eines normalen Angestellten nicht mehr, um eine Wohnung zu bezahlen.
Architektur kann Teil der Lösung sein
Architektur ist auch ein Teil des Problems, denn sie errichtet in den Metropolen jene Lofts und „Höfe“, die sich nur die oberen drei Prozent leisten können und mit denen die untere und Mittelklasse vertrieben wird. Doch Architektur kann auch Teil der Lösung sein. Allerdings funktioniert dies nur, das wird nicht verschwiegen, wenn Politik, Stadtverwaltungen und soziale Träger an einem Strang ziehen.
Insgesamt 23 Beispiele werden gezeigt, wie ehemals Wohnungslose anständig und mit gesellschaftlicher Teilhabe leben können. Im „Winzi-Rast“-Haus in Wien (Büro Gaupenraub) etwa gibt es zehn Wohnungen für je drei Personen, dort leben ehemalige Obdachlose sowie Studierende zusammen. Angeschlossen sind Gemeinschaftsräume, eine Werkstatt und ein von den Bewohnern betriebenes Restaurant. Am wichtigsten aber: Das Haus liegt mitten in der Innenstadt, keinen halben Kilometer vom Rathaus entfernt.
[Bis 6. Februar 2022 in der Pinakothek der Moderne, München.]
In London wiederum gibt es die Anlage „Shelter from the storm“ (Schutz vor dem Sturm) für jeweils einzelne Übernachtungen, ein „Community-Cafe“ ist angeschlossen. Die Architekten Holland- Harvey haben die Einrichtung in rötlichen Farben und mit Holzböden versehen, es geht, so schreiben sie, um „Empfindsamkeit, Häuslichkeit und Wärme“. Wo das Haus genau liegt, wird nicht verraten, um den erwartbaren Ansturm zu verhindern. Ein Platz lässt sich telefonisch buchen, dann erfährt man die Adresse.
Tagesablauf eines Mannes, der auf der Straße lebt
Die Politik kann Obdachlosigkeit auf die oft brutale Straße oder an den unwirtlichen Stadtrand schieben. In einem Film in der Ausstellung zeigt der Regisseur Matthew Ho den Tagesablauf eines Mannes, der Stunde für Stunde von einem Ort zum nächsten wandert, wo er dann jeweils wenigstens temporär geduldet ist. Von „stiller Gewalt gegen obdachlose Menschen“ ist die Rede, begünstigt durch eine „defensive Architektur“.
Oder Politik und Gesellschaft setzen auf Integration und ermöglichen das universelle Recht auf Wohnen sichtbar und in ihrer Mitte. Mit Architektur hat diese Ausstellung nur mittelbar zu tun, das sagt auch der Kurator Daniel Talesnik vom Architekturmuseum.
Es handelt sich um ein gesellschaftspolitisches Thema, das umfassend behandelt wird. Talesnik und sein Team haben zwei Jahre lang dafür recherchiert, die Ausstellung ist recht textlastig geworden. Der ausgezeichnete Katalog (38 Euro) ist eine sinnvolle Ergänzung, um die Texte danach in Ruhe zu lesen.
Von Raum zu Raum tritt der Besucher auf die in geringem Abstand auf den Boden gemalten Betten, dicht an dicht. Genau in diesem Maßstab sind die Betten in der großen Münchner Obdachlosenunterkunft in der ehemaligen Bayernkaserne aufgestellt – zwölf Stück auf 36 Quadratmetern, ergibt drei Quadratmeter pro Person. Das ist das Minimum, absolute Nothilfe. Mit Integration hat das nichts zu tun.