Durchreisende auf Mutter Erde
Der jüngste Bericht des Weltklimarats verheißt nichts Gutes: Die Hälfte der Menschheit wird Opfer der Klimakrise. Deren Folgen wie Hitze, Dürren und Fluten werden ärmere Menschen stärker einholen als wohlhabendere.
Verlieren werden wir alle. Denn „die Knospen, die die Technosphäre mittlerweile auf der Biosphäre getrieben hat, sind parasitä“, zitiert der in Kalkutta geborene und derzeit in Chicago lehrende Historiker Dipesh Chakrabarty in seiner ersten auf Deutsch erschienenen Monografie „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ den Geologen Mark Williams. Minen, Bohrlöcher und ähnliches reichen inzwischen in tiefste Gesteinsmassen der Erde und in die Meereswelt, sodass sich die Spuren und Abfälle auch in die geologische Zeit der Erde einschreiben.
[Dipesh Chakrabarty: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2022. 443 S., 32 €.]
Um diese im „Anthropozän“, dem wesentlich vom Menschen beeinflussten Erdzeitalter, beginnende neue Durchlässigkeit zwischen globaler und geologischer Zeit geht es in Chakrabartys Buch, worauf schon der irritierende Titel verweist. Die globale Zeitlichkeit bezieht sich auf den menschlich-historischen Zeit- und Erfahrungshorizont, planetarische Prozesse folgen Zeitrhythmen von unmenschlicher Größenordnung.
Doch erstmals in der Geschichte besitzt der Mensch die Handlungsmacht, die ihn befähigt, in die Geschichte des Planeten einzugreifen und stößt damit gleichzeitig an die Grenzen des Politischen.
Er ist zum irreversiblen geologischen Handlungsträger geworden, unabhängig von politischen Systemen, in dessen Rahmen er handelt. Alleine sein massenhaftes Dasein, verbunden mit nachvollziehbaren Bedürfnissen der Sicherheit und Freiheit, befähigt ihn zu einem Räuber, der alle anderen Arten bedroht. Das macht die humanistische Unterscheidung von Natur- und Menschheitsgeschichte, so Chakrabarty, hinfällig und fordert dazu heraus, die anthropozentrischen Vorstellungen des Menschen von der Erde (Globus) zu revidieren. Deshalb muss „die Kritik an der kapitalistischen Globalisierung mit der Gattungsgeschichte des Menschen ins Gespräch“ gebracht werden.
Die Andersheit des Planeten
Chakrabarty geht es um einen grundlegenden Paradigmenwechsel der Perspektiven. Als Historiker tritt er in einen fruchtbaren Dialog mit den Spezialisten der Erdsystemwissenschaft (ESS), die – Protagonisten der NASA im Kalten Krieg im Kampf ums All – ausgerechnet zu Geburtshelfer:innen des neuen Denkens wurden und uns die Zeitdimensionen des Planetarischen und der „Andersheit“ des Planeten näherbrachten.
Die großflächig ausgebreiteten Fakten – sehr begrenztes menschliches Wissen – führen vor, weshalb Maßnahmen, die nur dem Prinzip der Nachhaltigkeit folgen, im geologischen Maßstab fehl gehen müssen, denn „für die menschlichen Bedürfnisse ist der Planet viel zu langsam.“ Die begrenzten politischen Zeitpläne und angenommenen Risikorechnungen sind hilflos gegenüber der abnehmenden „Bewohnbarkeit“ der Erde, die Chakrabarty, statt Nachhaltigkeit, zumindest als Maßstab unserer Überlegungen vorschlägt.
Gleichzeitig macht die Erdwissenschaft aber deutlich, dass dem Planeten der Mensch, der in der Evolution ohnehin viel zu spät gekommen ist, und dessen „überhasteter Aufstieg an die Spitze der Fleischfresser“ sich als fatal erwiesen hat, gänzlich gleichgültig ist. Menschen seien eher „Gäste auf Durchreise als gastgebende Besitzer“. Und es gebe keinen Beweis dafür, wird ein weiterer Geologe, David Archer, zitiert, dass die Welt speziell für uns geschaffen wurde“, auch wenn wir uns das einbilden und danach handeln.
Nachgeholte Entwicklung
Chakrabarty, der viel über Kulturimperialismus und Postkolonialismus geforscht hat, ist sich indessen bewusst, dass gerade Schwellenländer wie Indien, aber auch die Staaten auf dem afrikanischen Kontinent, ein Interesse an nachgeholter Entwicklung haben. Viele seiner anschaulichen und teilweise anekdotischen Erzählungen beziehen sich auf seine indische Heimat, insbesondere Kalkutta.
Wie soll man Menschen dort erklären, dass sie zwar besonders unter der Klimakrise zu leiden und unter den gegebenen Lebensbedingungen kaum Ausweichmöglichkeiten haben, aber keine Klimaanlage kaufen sollen, weil das klimaschädlich ist? Ist es unter diesen Umständen nicht legitim, wenn sich Indien um Aufschub beim FCKW-Verbot bemüht? Dass die Dekolonialisierung eine ungeheure Beschleunigung und den Sprung ins Anthropozän mit sich gebracht hat, kann nicht denen angelastet werden, die mit dem Westen um Klima- und Konsumgerechtigkeit streiten, sondern höchstens denjenigen, die dieses falsche Moderneversprechen gaben.
Die Crux aber ist: Dieses Streben macht die Welt vielleicht „egalitärer und gerechter, aber die Klimakrise wäre größer.“ Chakrabarty plädiert deshalb auch als Historiker schon seit Längerem für eine „Provinzialisierung der Moderne“ und für die Verabschiedung von deren Maßstäben.
Die Bewohnbarkeit der Welt, die der Autor – in der Nachfolge von Heidegger, wie er sich überhaupt auf eine Vielzahl deutscher Philosoph:innen bezieht – vorschlägt, bedeutet aber auch eine gerechte Verteilung über die Arten hinweg. Wilde Kamele dürften dann nicht mehr, wie 2019 in der Dürrekrise in Australien, massenhaft getötet werden, in der Konkurrenz um Wasser.
Selbst mit Mikroben, die die Vitalmasse des Menschen um ein Vielfaches übersteigen, müsste sich der Mensch bewusst in eine Art Netzwerk-Kooperation begeben. Hier gibt es deutliche Anschlüsse an den französischen Wissenssoziologen Bruno Latour, der das Buch mit einem Interview beschließt. Die „Krise des Anthropozäns“ geht mit der „Rückführung des Menschen auf seine Kreatürlichkeit“ einher und in eine Ordnung über, „die nicht notwendig vom Menschen dominiert wird“.
Der Körper des Unberührbaren
Als ein Symbol für diese neue Durchlässigkeit wird der abstrakte Körper der indischen Dalit, der „Unberührbaren“, vorgestellt, zwischen zwei Denktraditionen stehend und vernetzt mit anderen Lebensformen. Aber auch wenn Chakrabartys Forderung einer neuen „Ehrfurcht“ am Ende fast religiös anschlägt, ist er Realist genug, um die Notwendigkeit des Politischen unbedingt einzuräumen. Die Überschreitung der ökologischen Grenzen verlange ebenso, „die Ungerechtigkeit zwischen den Menschen heranzuzoomen“, als uns auch soweit zu distanzieren, dass wir das Leid der anderen Arten und das des Planeten im Blick zu behalten.
„Das Politische aufzugeben, kann sich der Mensch nicht leisten“, doch es „gibt kein Außen mehr.“ Hier kommen für ihn die Geisteswissenschaften ins Spiel, die sich in diese Anderen hineinversetzen können. Zwar seien wir nicht in der Lage, alle Wissensformen der „Erdgebundenen“ zusammenzuführen, „aber ohne Zweifel können wir uns selbst und die Geschichte des Menschen aus vielen Perspektiven gleichzeitig betrachten.“ Und diese Geschichte beschränke sich eben nicht auf 500 Jahre Kapitalismus.
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An manchen Stellen ist das informationsschwangere Buch redundant, so wird mindestens fünf Mal das „sechste Massensterben“ auf dem Planeten erwähnt, da ist die Genese aus Vorträgen und Aufsätzen spürbar. Doch die beeindruckende Belesenheit des Autors, sein auch in der Übertragung von Christine Pries häufig aufblitzender Witz und die wissenschaftliche Demut vor unserer „Wohnstätte“ machen dieses Buch zu einer interdisziplinären Musslektüre.
Die Befunde für das aufgerufene „Wir“ und den Planeten hallen nach. Nicht nur das Klima, sondern auch das Klima der – für uns noch nicht erfahrbaren – Geschichte wird sich ändern und unser gesamtes Weltverständnis. Und dabei wird es vielleicht keine Rolle mehr spielen, was „Leben“ ist und was einfach nur Machtinteresse, sondern was einen Planeten zu „einem freundlichen Planeten macht für komplexes Leben.“