„Wir wollen den Negativtrend nun umkehren“

Dirk Schimmelpfennig hat auch noch am ganz späten Abend Zeit für ein Gespräch. Dabei hat der Mann eine anstrengende Woche hinter sich. Im Bundesleistungszentrum Kienbaum trafen sich in den vergangenen Tagen viele Vertreter des Leistungssports, um über das schwache Abschneiden der deutschen Athletinnen und Athleten in Tokio zu reden – und Konsequenzen daraus zu ziehen. Im Interview mit dem Tagesspiegel erzählt das Vorstandmitglied des Deutschen Olympischen Sportbundes, welche Maßnahmen diskutiert worden sind.

Herr Schimmelpfennig, die deutschen Athletinnen und Athleten haben bei Olympia in Tokio so schlecht wie seit 65 Jahren nicht mehr abgeschnitten. Viele Vertreter des Sports haben sich dieser Tage getroffen, um Konsequenzen daraus zu ziehen. Was ist dabei herausgekommen?
Zunächst einmal ist das Ergebnis von Tokio schonungslos thematisiert worden. Es ist ganz klar: Seit 30 Jahren ist im Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen hierzulande ein Abwärtstrend zu beobachten und wir haben es in Tokio nicht geschafft, diesen umzukehren.

Im Gegenteil, mit nur 37 Medaillen blieb Deutschland noch einmal unter dem Ergebnis der vergangenen Jahre.
Da gibt es auch nichts zu beschönigen. Das hat der deutsche Spitzensport erkannt. Wir wollen diesen Negativtrend nun umkehren. Das bedarf einer inhaltlichen und strukturellen Neuausrichtung.

Dirk Schimmelpfennig, 59, ist seit 2015 Vorstand Leistungssport beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).Foto: dpa

Die wie aussieht?
Es sind hinsichtlich der Struktur schon wichtige Dinge auf den Weg gebracht worden. Mit dem 1. Januar 2022 beginnt ein neuer Zyklus. Auf Grundlage der sogenannten Potenzialanalyse werden dann die Fördermittel des Bundesinnenministeriums vergeben. Das heißt, dass Unterstützungsleistungen künftig mehr als in der Vergangenheit anhand von Erfolgserwartungen verteilt werden.

Das ist nicht neu. Was wurde nun bei der Leistungssportkonferenz in Kienbaum beschlossen?
Wie haben uns mit Blick auf kommende Olympische Spiele auf ein zweistufiges Verfahren geeinigt. Es ist einerseits verabredet worden, dass wir uns in den nächsten drei Jahren, also bis zu den Olympischen Spielen in Paris, auf einen Kreis an förderungswürdigen Athletinnen und Athleten konzentrieren wollen.

Welche Athletinnen und Athleten sind das?
Das Ergebnis in Tokio kann man auch positiv lesen. 114 deutsche Athletinnen und Athleten haben es in Tokio auf die Plätze eins bis acht geschafft. Das sind neun mehr als in Rio fünf Jahre zuvor. Jedenfalls wollen wir uns auf diese Kandidaten in Richtung Paris fokussieren. Sicher, es werden ein paar von ihnen aufhören, einige Talente werden hinzukommen. Aber ein großer Stamm wird bleiben.

Was wurde noch besprochen?
Die zweite Stufe beinhaltet, in Los Angeles 2028 und Brisbane 2032, aber auch im Winter und im nicht-olympischen Bereich besser zu werden, neben den Strukturen sollen auch Inhalte angegangen werden. Die Themen sind häufig nicht neu, wurden aber bislang wegen Partikularinteressen oder aus formalen Gründen nicht umgesetzt. Sehr wichtig ist das Thema Trainerausbildung und Nachwuchsförderung. Hier müssen wir Fortschritte erzielen. Wir müssen mehr Trainerinnen und Trainer im Leistungssportbereich rekrutieren. Das geht nur, indem ihre vertraglichen Rahmenbedingungen verbessert werden. Und im Bereich des Nachwuchsleistungssports muss der Schulsport als Grundlage für eine systematischere Talentsichtung und -förderung stärker als bisher im Fokus stehen.

Ist das Leistungssportsystem hierzulande zu dezentral strukturiert?
Auch das wurde besprochen. Wir wollen die Bürokratie im deutschen Leistungssport abbauen, die Entscheidungsfindung muss straffer organisiert werden. Wichtig ist vor allem die weitere Professionalisierung der Strukturen, das Hauptamt muss im Leistungssport noch stärker ausgebaut werden. Nur so können wir uns den zentralen sportfachlichen Herausforderungen widmen.

Gibt es Länder, die sich der deutsche Leistungssport zum Vorbild genommen hat?
Ideen oder Anleihen anderer erfolgreicher Sportnationen spielen schon länger eine Rolle in unseren Überlegungen. Zuletzt in Tokio, wo das Gastgeberland Japan erfolgreich war, hat sich einmal mehr gezeigt, dass eine zentralere, einheitlichere Talentsichtung zu großem Erfolg im Sport führen kann.

Das hat es in Deutschland alles schon einmal gegeben, in der DDR.
Das ist richtig, aber das Leistungssportsystem der DDR taugt nicht mehr zum Vorbild unserer Zeit. Und dennoch: Eckpfeiler der Erfolge der DDR-Leistungssportlerinnen und -Leistungssportler waren zum einen die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport in Leipzig, in der die vielen guten Trainerinnen und Trainer ausgebildet wurden und dann natürlich die systematische Talentsichtung.

Aktuell gestaltet sich die Lage im Sport gerade auf dem Land so: Der Fußballverein ist eine feste Institution, vieles andere findet gar nicht oder in der Nische statt. Sorgt der Fußball für eine Monokultur im deutschen Sport?
Klar, Fußball ist hierzulande die Volkssportart. Vieles konzentriert sich auf ihn. Gerade in der Nachwuchsförderung. Das heißt aber auch, dass es viele Talente nicht schaffen. Und hiervon könnten auch die anderen Sportarten profitieren.

Inwiefern?
Indem ein Talentetransfer stattfindet. Wenn ein Kind etwa herausragende physische Eigenschaften hat, aber Mängel in der Fußballtechnik, könnte beispielsweise ein Wechsel in die Leichtathletik angeregt werden. Das findet viel zu wenig statt. Über das Wichtigste haben wir aber noch gar nicht gesprochen.

Was haben wir vergessen?
Die langfristigen Ziele des deutschen Leistungssports. Es geht darum, ein Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen, dass der Sport in der Breite wie in der Spitze enorm wertvoll für uns alle ist. Hier sind die politischen Träger gefordert.

Apropos, nach vielen Jahren unter Unions-Führung könnte das für den Sport verantwortliche Bundesinnenministerium künftig an einen Vertreter aus einer anderen Partei gehen. Was würde das für den deutschen Leistungssport bedeuten?
Tatsächlich hat es Thomas de Maizière von der CDU gemeinsam mit DOSB-Präsident Alfons Hörmann geschafft, entscheidende Reformen im Leistungssport zu fördern. Und in der immer noch aktuellen Regierung hat Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU den Leistungssport durch eine Erhöhung der Fördermittel unterstützt. Wir waren sehr zufrieden. Es ist aber nicht gesagt, dass andere Parteien dem Leistungssport und dem Sport insgesamt nicht genauso eine Bedeutung beimessen werden.