Im Abraum

Am Ende dieses kleinen Kurzgeschichtenbandes sinniert Clemens Meyer in einem sogenannten Nachsatz unter anderem darüber, was eine Kurzgeschichte ausmacht. Er zitiert einen seinen Lehrer am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, Josef Haslinger, der meint, eine solche sei einfach eine Geschichte, die man in einem Zug durchlesen könne.

Er spricht davon, dass das Wesentliche einer Kurzgeschichte ihr Kern sei, „um den wir kreisförmig unsere Sätze ziehen“. Und er erwähnt etwa Ernest Hemingway, dem es in seinen besten Short stories gelang, „mit scheinbar geringen Mitteln einen magischen Raum“ zu schaffen.

Natürlich fragt man sich nach der Lektüre sogleich, ob die drei Geschichten von „Stäube“, wie Meyers Band betitelt ist, diesen Kriterien standhalten. Die Geschichte über einen Mann, der seine alte Mutter in einem aufgegebenen Braunkohle-Dorf besucht; jene über ein junges Mädchen und einen von ihr bewunderten älteren Jungen; schließlich eine dreigeteilte Story über einen Mann, der in einen Stollen „einfährt“, aus Gründen der Erinnerung, um nachzuforschen, wie das für die Bergleute von einst gewesen ist.

Letztere, obwohl das Zentrum bildend, wirkt erratisch, es überlagern sich darin Zeiten, Erinnerungen, Orte und Räume mitunter recht irreführend, ein Zentrum, gar ein Glutkern ist schwer auszumachen. Die beiden anderen, kürzeren aber zeigen Clemens Meyer in Höchstform, als einen Autor, der seine Erzählerhelden aufmerksamst studiert hat und deren Sujets in ostdeutsche, ihm gemäße Gegenwartskontexte bettet – und der zu den besten Kurgeschichtenerzählern in Deutschland gehört.

Ostdeutsche Befindlichkeit

In „Die Glocken“ und „Wo die Drachen wohnen“ überblendet Meyer geschickt Vergangenheit und Gegenwart seiner Figuren. Zum Beispiel die des Mannes, der seine Mutter besucht und sich selbst unentwegt als Kind, das er mal war, betrachtet. Aber auch die Historie jenes Dorfes und der „kleinen Stadt“ mitsamt ihrem Bahnhof und dem „Mitropa“-Restaurant spielt eine Rolle darin.

Oder da steht, wie in „Wo die Drachen wohnen“, auf einmal das abgebrannte Haus der NSU-Terroristen im Mittelpunkt. Die Stimmung hier, mutmaßlich Zwickau, ist aufgeladen, aggressiv, hier am Rand, ganz unten in Ostdeutschland.

Es zieht gleichermaßen eine schöne Melancholie und eine gegenwärtige ostdeutsche Befindlichkeit durch diese zwei Meyer-Stories. Ihre Farbtöne changieren zwischen schwarz, grau und anthrazit, Autoren wie Wolfgang Hilbig oder Franz Fühmann winken freundlich herüber, die aufgegebenen Bergwerke und stillen Abraumhalden sind Sinnbilder für den allgemeinen Zustand der Region, die Zeit ist verloren und lässt sich nicht wiederfinden.

Meyer ist kein Freund des Genders

Und trotzdem: Meyer produziert ein Leuchten als Mehrwert, einen besonderen Zauber. Was zu der Frage führt, worin er selbst seine Zukunft als Schriftsteller sieht. Meyers letzter großer Roman „Im Stein“ erschien vor acht Jahren, seitdem gab es von ihm bis auf den Erzählband „Die stillen Trabanten“ vor allem Zwischenwerke, die ihren Reiz haben, so wie zuletzt die Novi-Sad-Erzählung „Nacht im Bioskop“, aber eben auch etwas unentschlossen Schlingerndes.

„Stäube“ bildet da keine Ausnahme. Zumal der Band nicht nur Bertram Kobers wunderbare Fotos von Steinen, Halden und Höhlen enthält, gewissermaßen als eigene Geschichte zum Thema Abraum, sondern auch eben jenen autobiografischen Essay am Ende.

Hauptsächlich geht Meyer darin dem Sinn und Zweck von Literatur nach, seiner Faszination für die Literatur. Dabei stellt er seine Ahnenreihe vor, von Franz Werfel über Hemingway bis zu B. Traven; und er positioniert sich als ein Autor, der aus einem anderen Milieu kommt als die Zadie Smiths und Daniel Kehlmanns dieser Welt.

Oder als einer, der sich mit dem Gendern in der Literatur nicht anfreunden mag und dann auch mal von der „Weiberlosigkeit“ spricht, die ihm sein Debüt „Als wir träumten“ leichter von der Hand gehen ließ.

Meyer erzählt aber auch von seinen Eltern und Großeltern oder wie er als Junge dem Schriftsteller Fred Wander begegnet ist und ein, zwei Jahre später mit den Eltern in Wanders Dorf zieht – nur ist dieser schon weitergezogen. Zu erzählen, das spürt man bei diesem Essay, hat Clemens Meyer noch sehr viel. Das in Klammern gesetzte „wird fortgesetzt“ am Ende wirkt wie ein Versprechen auf eines Tages wieder Größeres.