Die Magie des ersten Mals

Es gibt einen Rausch, den hat man im Leben nur einmal – und zwar dann, wenn alles ganz neu ist. Also irgendwann in der Pubertät. Wenn man das erste Mal verliebt ist oder betrunken. Alle sind dann ein bisschen überdramatisch und ein bisschen kreischig und es fühlt sich ziemlich schön an. Aber es gibt auch noch das Gegenteil: Die Realität – und die ist nach so einem Rausch immer besonders hart.

Nelson wohnt mit seiner Mutter in einem Wohnblock am Rand von Hamburg. Der Fahrstuhl ist meistens kaputt und die Mutter oft in der Klinik, wochenlang, wegen ihrer Depressionen. Nelson isst dann immer viel Tiefkühlpizza, zockt bis in die Nacht und manchmal, wenn er im Bett liegt und sich einsam fühlt, schaut er Fotos von seinem Vater an – und vermisst ihn ganz schlimm. Aber wenn es am nächsten Tag wieder hell wird, geht Nelson wie gewohnt zur Schule und da warten eine Menge Freunde auf ihn.

Auf Marie wartet da leider niemand. Sie ist neu in der Klasse, ihre Eltern haben sich getrennt und konnten die teure Privatschule nicht länger bezahlen. Nun findet Marie keinen Anschluss. Mit ihren blonden Haaren fällt sie auf – und auch damit, dass sie immer ein Buch dabei hat. Aber dann lernt sie Gülcan kennen und alles wird ein bisschen erträglicher. Wäre da nur nicht die Klassenfahrt nach Mecklenburg-Vorpommern, Maries Oberhorror. Und diese schlimme Verliebtheit.

In ihrem Debüt „Keiner zwischen uns“ beschreibt Carolin Hristev, 1980 im heutigen Chemnitz geboren, eine neunte Klasse, die gerade voll dabei ist, erwachsen zu werden. Die Jugendlichen erleben ihren ersten Sommer mit Schmetterlingen im Bauch, Saufgelagen und schlimmem Liebeskummer.

Abwechselnd schreiben Nelson und Marie aus ihrer Perspektive. Die Konflikte, die ihnen im Alltag begegnen, sind zeitgemäß und politisch. Sie streiten über Homosexualität, Rassismus und Angst.

Hristev bricht gesellschaftliche Debatten herunter

Als die Klasse in der Mecklenburgischen Provinz auf NPD-Plakate stößt, auf denen Sprüche stehen, wie „Natürlich blond“ und „Maria statt Scharia“ macht sich Ibo, ein Klassenkamerad, über Marie lustig, tut so, als sei sie gemeint. Marie fühlt sich ungerecht behandelt. Gülcan gibt zu bedenken, dass sie nicht die Einzige ist, „die wegen irgendwas diskriminiert wird.“

Hristevs bricht gesellschaftliche Debatten herunter. Ihre Protagonist:innen treten als Vertreterinnen von Interessengruppen auf – in Miniaturansicht, ohne dabei allzu pädagogisch zu wirken.

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Nelson erfährt irgendwann, dass Hamza, sein bester Freund und Beschützer, Männer liebt. Er versteht nicht, dass man sich nicht unbedingt dazu entschließt, schwul zu sein. Vor allem aber fürchtet er die Reaktionen der anderen, deren Mobbing und Ausgrenzung und den Vater von Hamza, weil der Moslem ist, und das sicher nicht tolerieren würde, vermutet Nelson. Und obwohl es sich nicht so ganz richtig anfühlt, distanziert er sich.

Hristevs Charaktere sind zum Teil sehr klischeebehaftet, einige entsprechen gängigen Stereotypen, andere, wie Hamza, sollen unbedingt mit diesen brechen und sind gerade deswegen dann doch wieder welche. Dafür ist das Milieu, in dem sich die Jugendlichen bewegen, lebendig beschrieben. Eine interessante Perspektive, weil nicht ausschließlich 15-Jährige vorkommen, die in Reihenhäusern und gängigen Familienkonstellationen aufwachsen.

Doch dann ist da noch die Liebesgeschichte zwischen Marie und Nelson, die zwar einerseits herzzerreißend ist, einem aber an mancher Stelle Schauer über den Rücken jagt, weil sie nur so vor Pathos trieft: „Wir kichern und dann bleiben wir stehen und küssen uns mitten auf der Straße, und Nelson zieht mich an sich und streicht über mein Haar und die Welt um uns versinkt.“ Der Rausch kann auch kitschig sein. Das gehört zum Erwachsenwerden wohl dazu.