Krise, war da was?

Cannes-Chef Thierry Frémaux hat am Donnerstagmittag gut lachen. Zwei Jahre nach der abgesagten Ausgabe von 2020 sieht die Auswahl seines Wettbewerbs wieder aus wie vor der Pandemie. Nicht ganz so aufgeblasen wie im Vorjahr, dafür ist das Starkino erneut groß vertreten – und mit Kirill Serebrennikow ist sogar ein russischer Filmemacher im Wettbewerb vertreten.

Das Festival hatte zu Beginn der Invasion, als auch die Filmbranche darüber stritt, wie man mit Filmen aus Russland umgehen sollte, angekündigt, keine Delegationen einzuladen, nicht aber russische Filmemacher per se zu boykottieren. Serebrennikow gilt in seiner Heimat als Dissident, seit einigen Tagen lebt er nach einem mehrjährigen Reiseverbot in Berlin. Sein neuer Film „Tchaikovsky’s Wife“ ist ein Biopic, aber wer im vergangenen Jahr seine Romanadaption „Petrov’s Flu“ in Cannes gesehen hat, ahnt bereits, dass der Regisseur und Theatermacher wieder mit ein paar Konventionen brechen wird.

Die größten Namen, die das Cannes Filmfestival zwischen dem 17. und 28. Mai aufzubieten hat, waren am Donnerstag bereits verkündet. Tom Cruise kehrt nach 30 Jahren wieder an die Croisette zurück, mit dem lang erwarteten Sequel „Top Gun: Maverick“. Die Sorte von „planetarischem Blockbuster“ (Frémaux), mit dem das Festival die Konkurrenz mit Venedig aufrechterhält.

Und der australische Impresario Baz Luhrmann bringt sein Biopic „Elvis“ mit nach Cannes. Beide laufen außer Konkurrenz. Frémaux kann am Donnerstag also den Rest des offiziellen Programms entspannt verkünden, die Populisten unter den Cineasten sind erst einmal bedient. Der Rest liest sich verlässlich wie ein Who is Who des Weltkinos.

Einmal Cannes-Familie, immer Familie

Cannes ist ein loyaler Partner. Wer einmal in die Familie aufgenommen ist, hat ein Abo auf Lebenszeit. Selbst mit weniger gelungenen Filmen, was im vergangenen Jahr die Qualität des überladenen Wettbewerbs ein wenig getrübt hat. Auch das diesjährige, 18 Filme umfassende Line-up ist nominell wie immer bemerkenswert, mit neuen Filmen von Valeria Bruni Tedeschi, David Cronenberg, den Dardenne-Brüdern, James Gray, Park Chan-Wook, Kelly Reichardt sowie den vorjährigen Palmen-Gewinnern Ruben Östlund („The Square”, 2017) und Hirokazu Kore-eda („Shoplifters – Familienbande“, 2018).

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Claire Denis, gerade erst in Berlin mit dem Regie-Bären ausgezeichnet, ist erstmals im Wettbewerb vertreten (als eine von nur drei Regisseurinnen), „Mad Max“-Regisseur George Miller zeigt seine Science-Fiction-Parabel “Three Thousand Years of Longing“ (mit Idris Elba und Tilda Swinton) außer Konkurrenz.

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Die zwölf Tage an der Croisette, das hat nicht zuletzt die „Pandemie-Ausgabe“ 2021 gezeigt, bilden eine Art Parallelrealität, an der die Außenwelt auch schon mal abprallt. Mit dem Bekenntnis zu befreundeten Filmemachern des Festivals hat Frémaux frühzeitig Position bezogen, als die internationale Kulturszene, in der Filmbranche angefeuert durch den Boykottaufruf der ukrainischen Filmakademie, schnell Pauschalurteile über den Umgang mit russischen Künstler:innen fällte. Ob es klug ist, „The Natural History of Destruction”, den neuen Film von Sergei Loznitsa, nur außer Konkurrenz zu zeigen, lässt sich von außen schwer beurteilen.

Der russische Filmemacher, der seit Jahren in der Ukraine arbeitet, hat sich in den vergangenen Wochen für die Kunstfreiheit stark gemacht und sich gegen eine Pauschalverurteilung von russischen Filmschaffenden ausgesprochen. Vermutlich hätte „The Natural History of Destruction” im Wettbewerb durch seine bloße Aktualität sehr viel, vielleicht sogar zu viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Loznitsas Stimme wird in Cannes so oder so deutlich zu vernehmen sein, trotzdem wirkt es etwas feige, ihm als Stammgast gerade in diesem Jahr eine Palme zu verwehren.

Eine Entscheidung steht noch aus. Normalerweise wird der Jury-Vorsitz während der Berlinale verkündet, in diesem Jahr hat sich Cannes diese Personalie bis zum Schluss aufgehoben. Man munkelt, dass Penélope Cruz gute Chancen hat, auch der iranische Regisseur Asghar Farhadi steht in der engeren Auswahl. Deutsches Kino übrigens ist in Cannes, im zweiten Jahr nacheinander, Mangelware. Das kurze Toni-Erdmann-Hoch hat sich an der Croisette endgültig verzogen.