Politik tötet die Armen
Wenn Édouard Louis nach dem Verhältnis zu seiner Familie gefragt wurde, hat er über lange Zeit entgegnet, seinen Vater zu hassen. „Dabei stimmte das nicht. Ich wusste, dass ich dich liebte, aber ich hatte das Bedürfnis, den anderen gegenüber zu behaupten, ich würde dich hassen. Warum?“. Nach der Antwort sucht Louis in seinem Buch „Qui a tué mon père“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“.
Und er spürt ihr jetzt auch in der Schaubühne am Lehniner Platz nach, als Performer der eigenen Geschichte. Im Pokémon-T-Shirt begibt er sich in eine Kindheit zurück, die von Schweigen, Männlichkeitswahn, aber auch verschämten Momenten der Zuneigung geprägt war.
Thomas Ostermeier hat Louis’ Text mit ihm inszeniert
Nach einem schweren Unfall in der Fabrik ist der Vater heute, kaum über 50, im wahrsten Sinne ein gebrochener Mann. Ein Opfer, nicht zuletzt seiner anerzogenen Homophobie, die ihn in die Armut getrieben hat. Gut in der Schule zu sein, das galt als Sache „für Mädchen und Schwuchteln“.
Thomas Ostermeier, der schon Louis’ „Im Herzen der Gewalt“ inszeniert hat, bringt diese Koproduktion mit dem Pariser Théâtre de la Ville jetzt im Kontext des Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND) zur Berliner Premiere. Vor den melancholisch grundierten Videobildern von Sébastien Dupouey und Marie Sanchez – die tief in die französische Herkunftsprovinz mit ihren rauchenden Schloten und einsam blinkenden „Tabac“-Schildern führen – , webt der Autor als Hauptdarsteller Erinnerungen an Tanzlust und „Titanic“ mit den Reflexionen der Bedingungen zusammen, die es dem Vater verunmöglicht haben, zu werden, wer er hätte sein können.
Und man fragt sich wieder: Wieso gibt es in Deutschland keine Schreibenden wie Édouard Louis, Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie, die über das Persönliche so präzise das politische Gefüge mit seinem ganz realen Klassengefälle kenntlich machen?
Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem hierzulande eine Arbeit wie „Love“ von Alexander Zeldin undenkbar wäre. Das Gastspiel, mit dem das diesjährige FIND begonnen hat. Der britische Dramatiker und Regisseur leuchtet hardcore-realistisch in eine Notunterkunft des Sozialamts, wo eben nicht gescheiterte Existenzen hausen, deren Absturz vorgezeichnet war. Sondern Menschen, die absichtsvoll an den Rand gedrängt werden.
Oder die es unversehens aus der Kurve getragen hat, weil ein paar widrige Umstände zu viel zusammengekommen sind. Wie die Patchwork-Familie mit zwei Kindern, die Frau hochschwanger, die von der Zwangsräumung überrascht wurde. Worüber der Vater einen Termin beim Arbeitsamt verpasst hat, was ihn teuer zu stehen kommen soll. Willkommen im Transit ohne Ausweg.
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Mit einem herausragenden Ensemble, das ohne Kunstanstrengung Menschen darzustellen vermag, die Empathie verdienen und nicht bekommen, zeigt Zeldin die Alltagsbewältigung im Ausnahmezustand. Den Kampf, den es bedeutet, für die Kinder Normalität zu spielen und den Gemeinschaftskühlschrank mit Fertiggerichten zu füllen.
Den verzweifelten Versuch, mit schrumpfendem Handyguthaben irgendjemanden beim Amt zu erreichen. Niemals droht „Love“ dabei in den Sozialporno zu kippen. Zeldin – der im kommenden Jahr an der Schaubühne inszenieren wird – blickt mit dokumentarischer Klarsicht auf die Situation von Systemverlier:innen, denen die Privilegierten „selber schuld“ hinterschreien.
Ganz anders politisch geht der Regisseur Kiril Serebrennikov in „Outside“ zu Werke. Der Hausarrest, unter den er in Russland als kritischer Künstler gestellt wurde, ist für ihn der Ausgangspunkt für einen wilden Traumtrip, eine Ausbruchsphantasie, die ihn mit dem chinesischen Fotografen Ren Hang zusammenführt.
Tatsächlich hatten beide eine gemeinsame Arbeit geplant. Kurz vor dem Treffen aber hat sich Hang – ein subversiver Underground-Star, dessen Motive vor allem nackte Körper waren – das Leben genommen. In seinem assoziativen, von queerer Energie durchpulsten Bilderstürmerstück lässt Serebrennikov ihn wieder auferstehen. Und erforscht mit Hang, wo sich Freiräume in einem repressiven Staat öffnen. Wie eine Rebellion aussehen kann, die nicht zur Pose gerinnt. Auch „Outside“ ist eine starke Arbeit in einer sehr guten Festivalausgabe.
Etwas aus dem Rahmen fällt nur die Spanierin Angélica Liddell, eine alte Bekannte bei diesem Festival und dieses Jahr „Künstlerin im Fokus“. Im ersten von zwei Gastspielen der Passionskünstlerin, „Liebestod“, geht es um Juan Belmonte, Erfinder des „spirituellen Stierkampfs“, um Richard Wagner, Liebe, Tod und Leidensbereitschaft.
Körper, die an Grenzen gebracht werden
Der Programmflyer enthält eine Triggerwarnung vor Szenen expliziter „Autoaggression“, unter anderem, weil Liddell sich selbst mit Rasierklingen die Haut aufritzt. Im Publikum ereignet sich dabei ein Ohnmachtsanfall, was zu tumultuarischen Momenten führt. Auf der Bühne jedoch sitzt die Künstlerin und zieht ungerührt eine Masturbationsszene durch. Ein reichlich schräger Moment.
Wie Körper an Grenzen gebracht werden können, davon erzählt Thomas Ostermeier mit Édouard Louis sehr viel eindrücklicher. Der konzentrierte, mitnehmende Theateressay „Wer hat meinen Vater umgebracht“ endet (wie das Buch) mit einer Aufzählung all der Maßnahmen, die in Frankreich schon seit 15 Jahren von der Politik gegen die Ärmsten der Gesellschaft aufgefahren werden.
Wichtige Medikamente werden nicht mehr erstattet, eine „reformierte“ Sozialhilferegelung zwingt den Vater, als Straßenfeger zu buckeln, eine Novelle des Arbeitsrechts macht mehr Überstunden möglich – und schließlich spricht Macron von den „Faulpelzen“, die Reformen blockieren.
Das alles hat den Vater direkt getroffen. In Darm, Rücken, Lungen, Herz. „Die Geschichte deines Körpers“, sagt der Sohn auf der Bühne, „ist die Geschichte dieser Namen, die aufeinandergefolgt sind, um dich zu zerstören“. Der Namen von Chirac, Sarkozy, Hollande und natürlich Macron.