Intergalaktische Tragödie
In den ersten Tagen lässt Venedig-Chef Alberto Barbera gerne die Muskeln spielen, was auch dem engen Festival-Terminkalender Anfang September geschuldet ist. Der Freitag ist in diesem Jahr das Schaufenster der Filmbranche, mit drei Weltpremieren, die lange vor der Verkündigung des Programms in aller Munde waren.
Und kein Muskelspiel Hollywoods – außer dem sehnlichst erwarteteten Bond-Film – ist 2021 eindrucksvoller als Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos „Dune“. Das Studio Warner hat die halbe Besetzung an den Lido gekarrt: Garant für eine launige Pressekonferenz und eine, trotz Sichtschutz, präpandemische Menschenansammlung am roten Teppich.
Schiere Größe ist das Motto von „Dune“, den Villeneuve nicht als Remake von Davis Lynchs Version aus den Achtzigern verstanden wissen will, sondern als eigenständige Adaption von Frank Herberts Romanzyklus; genauer gesagt, der ersten drei Bücher. Den psychoaktiven Exzess der Lynch-Verfilmung hat Villeneuve rigoros gestrafft, mit der Konsequenz, dass nun umso deutlicher zutage tritt, wie viel Einfluss Herbert offensichtlich auf George Lucas und „Star Wars“ hatte.
“Dune” ist auf maximale Überwältigung angelegt
„Dune“ nimmt seinen Stoff allerdings völlig humorlos. Die Ausbeutung der natürlichen Resourcen, intergalaktischen Messianismus sowie die Überschneidungen von Mythologie und Politik erzählt der Film als griechische Tragödie; er stößt damit wieder zum Kern von Herberts Geschichte vor. Die Dynastie, der Paul Atreides (Timothée Chalamet) entstammt, ist eine Anlehnung an den Herrscher von Mykene, dessen Ahnen sich mit den Göttern anlegten. Er muss nach dem Sturz seines Vaters (Oscar Isaac) in der Wüste, auf dem Planeten Arrakis, der von dem kriegerischen Nomadenvolk der Fremen bewohnt wird, seine Berufung finden.
„Dune“ ist, ähnlich wie im vergangenen Jahr „Tenet“, vor allem eine Visitenkarte fürs Kino – und damit perfektes Festivalmaterial. So heftig haben die Wände des altehrwürdigen Palazzo del Cinema vermutlich lange nicht mehr vibriert, Sound und Bilder – Musik: Hans Zimmer – sind auf maximale Überwältigung angelegt.
Startende Raumschiffe (die libellenartigen Kampfjäger gehören zu den originellsten Designs), brennende Raffinerien, glitzerndes „Spice“, die wertvollste Resource der Galaxie, in der Wüstenluft, gigantische Sandwürmer: Villeneuve sagt, er habe seinen Film für Imax-Kinos gedreht. Als Autorenschaft eines Blockbusters ist das heute vermutlich schon das höchste der Gefühle.
Ein Autor drei Nummern kleiner, aber in Venedig ebenso gern gesehen, ist der Chilene Pablo Larraín, der nach seinem Jackie-Kennedy-Biopic mit Natalie Portman in diesem Jahr Kristen Stewart als Prinzessin Diana an den Lido mitgebracht hat. Sein „Jackie“ ist natürlich die Bezugsgröße für „Spencer“, auch wenn das popkulturelle Kapital der beiden Ikonen aus unterschiedlichen Äras stammt.
Larraín und Stewart haben es deutlich schwerer. Diana-Bilder zirkulieren bis heute in den Medien, sie ist – nicht zuletzt durch den jüngsten Skandal mit ihrem BBC-Interview von 1995 und der dritten Staffel von „The Crown“ – auch 25 Jahre nach ihrem Tod immer noch allgegenwärtig.
Larraín und sein Autor Steven Knight müssen sich in ihrer Version darum größere Freiheiten mit der Figur Diana Spencer nehmen – mit gemischten Resultaten. „Spencer“ spielt einige Jahre vor dem BBC-Interview, an einem Weihnachtswochenende auf dem Landsitz Sandringham House (gedreht auf Schloss Marquardt in Potsdam). Kristen Stewart fährt zu den Feierlichkeiten im Porsche vor und nimmt erst mal die falsche Abfahrt, obwohl ihr Geburtshaus nur ein paar Äcker weiter liegt. „Wo bin ich?“ fragt sie das entgeisterte Landvolk. Der Satz wird zum Leitmotto von Larraíns Film.
Lady Di sabotiert das Tontaubenschießen
Der Regisseur will Diana als Stilikone – sie reist mit einem fahrbaren Wandschrank fürs Wochenende an (ein Traum aus Merinowolle, Seide und Schulterpolstern, zu jeder Mahlzeit ein anderes Outfit) – wie auch als selbstbestimmte Prinzessin inszenieren. An diesen Weihnachtstagen, in der beklemmenden Enge des prunkvollen Landsitzes, fällt der Entschluss, sich von Charles zu trennen. Der größte Unterschied zu „Jackie“ besteht darin, dass Portman hinter der Rolle verschwand, während Stewart ihre Figur mit einer Mischung aus Verzweiflung und neu erwachtem Mut kapert.
Paradox daran ist, dass „Spencer“ einerseits vorhersehbar bleibt, dann aber immer wieder auch erratische Momente aufblitzen. Kristen Stewart in Gummistiefeln auf der Weide oder als Saboteurin beim königlichen Tontaubenschießen. Die neu gewonnene Freiheit ist ein Wunder: „All I Need is a Miracle“, singen Diana, Harry und William am Schluss im offenen Cabrio.
Ein anderer Achtziger-Hit hat einen besonderen Platz in Maggie Gyllenhaals rätselhaft-schöner Verfilmung von Elena Ferrantes Romans „The Lost Daughter“. Olivia Colman tanzt zu Bon Jovis „Living on a Prayer“ auf einer Strandparty; es ist der Moment im Film, der kurz ein Fenster aufmacht in jene zwanzig Jahre im Leben ihrer Harvard-Professorin, die Gyllenhaal in ihrem Porträt einer „schlechten Mutter“ so großzügig wie kunstvoll auslässt. Die ersten Tage von Venedig gehören den Frauen. Aber um Gyllenhaals Film kommt man in diesem Jahr wohl nicht herum.