Die Regisseurin Claire Simon: Auf Augenhöhe mit den kleinen Menschen
Die Filmemacherin Claire Simon befindet sich auf dem Weg in eine gynäkologische Klinik, um die Arbeit an einem Dokumentarfilm zu beginnen. Vor dem Gebäude erfasst sie noch kurz ein Gefühl der Angst, das jedoch von der „glücklichen Aussicht auf Begegnungen“ verscheucht wird. Nach diesem persönlichen Auftakt entwickelt sich „Notre Corps“ über knapp Stunden zu einem (fast) klassischen Institutionenporträt, das auf unterschiedlichen Stationen medizinische Behandlungen begleitet: von Schwangerschaftsabbruch und Endometriose über die Hormontherapie für eine Trans-Frau bis hin zu künstlicher Befruchtung und Krebs. Die Filmemacherin wird dabei selbst unerwartet zur Patientin.
Simons Film über weibliche Körperpolitik lief auf der Berlinale
„Notre Corps“ ist eine behutsame Annäherung. Von Aufklärungsgesprächen – und der Versprachlichung von Leid und medizinischen Verfahren – verläuft die Bewegung allmählich zum Körper. Man wird Zeugin von Untersuchungen, Operationen und Geburten und der berührenden Situation, in der für eine schwerkranke ältere Frau nicht mehr getan werden kann, als ihre Hand zu streicheln.
Bei der diesjährigen Berlinale gehörte die im Forum präsentierte Studie zu den meistbesprochenen Filmen; vor allem jene Teile des Publikums, die selbst in einem weiblichen Körper leben, konnten sich in irgendeiner Geschichte, einer Erfahrung, einem Symptom oder Schmerz wiederfinden. Im Rahmen der mit „Formen des Realen“ überschriebenen Werkschau läuft „Notre Corps“ an diesem Freitag nun als Eröffnungsfilm.
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Die Begegnung und das Gespräch mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Herkünfte sowie das Teilen persönlicher Erfahrungsräume sind in Claire Simons mittlerweile vierzig Jahre umspannenden Werk wichtige Momente. Ebenso wie das Interesse für Orte und die individuellen Geschichten, die damit verbunden sind.
Simon studierte Anthropologie und Arabisch, sie fand als Autodidaktin zur Regie – und über den Weg der Montage. Ihr Begriff des Dokumentarischen ist nicht-akademisch und von einer kollaborativen Praxis geprägt, die Kamera führt sie selbst, oft ist sie als Off-Stimme präsent. Simon dreht Spielfilme und Dokumentarfilme, mit fließenden Grenzen zwischen den Genres.
Räume gegen gesellschaftliche Erwartungen
„Conversations inédites“ – unveröffentlichte Gespräche, so nennt Simon in „Premières Solitudes“ (2018) die Dialoge, die Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums in wechselnden Zweier- und Dreierkonstellationen führen: im Klassenzimmer, auf Parkbänken, im Schulflur. Der Film setzt der Kommunikationslosigkeit in den Elternhäusern das Sprechen entgegen – und der Einsamkeit die Gemeinschaft. Für eine begrenzte Zeit wird der von gesellschaftlicher Erwartung besetzte Raum zu etwas anderem: einem Raum für Bekenntnisse, Erinnerungen, für die Artikulation von Zweifeln, Ängsten und Wünschen.
Der im Rahmen eines Schulprojekts entstandene Film ist nicht der einzige, der in einer pädagogischen Einrichtung entstand. In „Récréations“ (1992) folgt Simon den Pausenaktivitäten in der Vorschule ihrer Tochter. Auf Augenhöhe mit den kleinen Menschen – in einer Kritik wurde dafür der schöne Begriff „Schnorcheln“ benutzt – wird der Schulhof zu einer Bühne für so selbstvergessene wie hochdramatische Spiele.
„Le concours“ (2016) dokumentiert dagegen im Modus des Direct Cinema die Aufnahmeprüfung an der Filmschule La Fémis, deren Regie-Abteilung Simon einige Jahre leitete. Auch hier gilt der Blick weniger den Strukturen einer Institution als den jungen Menschen, die sich mit unterschiedlichen Erwartungen, Leidenschaften und Filmkenntnissen dem Verfahren stellen.
Zeitlose Filme über temporäre Orte
„Géographie humaine“ (2013) und „Le bois dont les rêves sont faits“ (2015) nehmen ihren Ausgangspunkt von Orten des Temporären und der Passage. Auf dem Gare du Nord und im Landschaftspark Bois de Vincennes interessieren Simon vor allem jene Menschen, deren Leben und Beschäftigungen eher an den Peripherien der Gesellschaft zu finden sind: auf dem Bahnhofsareal Gestrandete oder dort Arbeitende mit vorübergehendem Aufenthaltsstatus beziehungsweise Obdachlose, Prostituierte, Cruiser oder aus Kambodscha Geflüchtete, die sich im Exil des Pariser Stadtwalds an ihre Heimat erinnert fühlen.
Einer anderen Idee des Topografischen folgt das wunderbare Porträt „Mimi“, einer der wenigen Filme Simons, die ihren Fokus auf eine einzelne Person richten. Mit der Filmemacherin besucht die charismatische Sechzigjährige Orte, die sich zu biografischen Markierungen einer romanähnlichen Erzählung verdichten.
Auch Simons Spielfilme – oder vielmehr: mit Schauspieler:innen in Szene gesetzte Filme – haben ihre Ursprünge im Dokumentarischen. Etwa wenn ausgehend von realen Beratungsgesprächen in einem Selbsthilfezentrum für Familienplanung weibliche Teenager und Frauen mit Sozialarbeiterinnen zusammengeführt werden – sowie die Schauspielerinnen Nathalie Baye und Béatrice Dalle mit Laien. In der Perspektivierung auf Fragen des Körpers, der Machtausübung und der Selbstbestimmung kommuniziert „Les Bureaux de Dieux“ (2008) auf vielfältige Weise mit „Notre Corps“. Auch Simons Filme sind untereinander im lebhaften Gespräch und in ihrem Gemeinsinn verbunden.