Roman „Doppelleben“ von Alain Claude Sulzer: Ein Herz, eine Seele, ein Verstand
Die besten Ideen kommen Jules bei der Morgengymnastik am offenen Fenster seiner Mansarde. Mit nacktem Oberkörper stemmt er Hanteln und absolviert Kniebeugen. Vor – zurück – auf – ab. Je größer die körperliche Anstrengung, desto mehr öffnen sich die Schleusen der Inspiration.
„Der Geist wurde leicht wie eine Montgolfiere und ziellos wie eine taumelnde Hummel.“ Jules liebt den Exzess, die Maßlosigkeit hält er für den einzig richtigen Maßstab. Deshalb trainiert er buchstäblich bis zum Umfallen. Sein Bruder Edmond, alarmiert durch den polternden Aufprall der Hanteln, stürzt ins Zimmer und findet ihn zusammengesunken am Boden.
Die Szene, in der der Morgensport im Kollaps endet, findet sich ziemlich am Anfang von Alain Claude Sulzers Roman „Doppelleben“. Schon in ihr zeigt sich, in welch enger, fast schon symbiotischer Beziehung die beiden Protagonisten zueinander stehen. Die Schriftsteller Edmond und Jules de Goncourt leben wie ein altes Ehepaar miteinander, nur dass sie nie miteinander streiten.
„Es war, als hätten sie ein Herz, eine Seele, einen Verstand“, heißt es einmal, „selbst der Augenblick sexuellen Verlangens übermannte nicht selten beide zur gleichen Zeit, als wären sie ein einziges Wesen“. Allerdings glaubt Edmond seinen acht Jahre jüngeren Bruder beschützen zu müssen. Denn Jules leidet an Syphilis, und kein Hanteltraining kann darüber hinwegtäuschen, dass sein Verfall bereits begonnen hat.
Das Buch setzt 1869 ein, kurz nachdem die beiden eingefleischten Junggesellen ein Haus im Pariser Vorort Auteuil erworben haben. In der Innenstadt hatten sie neben der Fabrik des Instrumentenbauers Adolphe Sax gewohnt, was dazu führte, dass sie schon mal sonntags von einer Blaskapelle geweckt wurden.
Doch die Hoffnung, nun endlich Ruhe zu finden, wird enttäuscht, weil der Krach ihnen in Form von schreienden Nachbarskindern und kläffenden Kötern gefolgt ist. Schriftsteller sind lärmempfindliche Wesen, und Sulzer läuft zu großer Form auf, wenn er die von Sax’ Werkstätten ausgehende Ruhestörung in eine Suada gegen das Musizieren an sich münden lässt, das Zuhörer in einen hypnotischen Rausch versetze, der „das Denken unmöglich“ mache.
Streifzüge durch die Salons
Die Goncourts sind davon überzeugt, dass „ihr Name sie überleben“ würde. Das ist eingetreten, aber anders, als die Brüder es sich erhofften, denn der Welt in Erinnerung geblieben sind sie weniger wegen ihrer naturalistischen Romane, sondern wegen ihrer ab 1851 gemeinsam geführten Tagebücher, in denen sie ihre Streifzüge durch die Pariser Salons schildern, Begegnungen mit befreundeten Kollegen wie Flaubert, Zola oder Victor Hugo festhalten und dabei nicht mit Häme und Sarkasmus geizen.
Alain Claude Sulzer setzt zwar gelegentlich Signalwörter mit Zeitkolorit wie „Kontorsionist“, „Montgolfiere“ oder „Leibesübungen“, vermeidet es aber glücklicherweise, den Duktus seiner Helden durch eine altmodische Sprache nachzuahmen, eine Crux vieler historischer Romane.
Talent zur Verknappung
Der Schweizer Schriftsteller erzählt lakonisch, manchmal wird er poetisch und lässt Mauersegler durch die Luft „pfeilen“. Immer wieder beweist er sein Händchen für aphoristische Verknappung: „Die Signatur der Künstler war Lässigkeit und Laisser-faire.“
Sulzer kriecht förmlich hinein in „die Arbeit der Gedanken“ der Goncourts und schreibt so eng an ihren Aufzeichnungen entlang, dass unklar ist, wo das Zitieren endet und die Erfindung beginnt. Die Schilderung einer Tischgesellschaft bei Prinzessin Mathilde Bonaparte gerät zum satirischen Kabinettstück.
Eklat bei der Prinzessin
Man parliert über Theatererlebnisse, die Goncourts fühlen sich gekränkt, weil ihr neues Buch mit keiner Silbe erwähnt wird, und als Jules beim Hauptgang „Es stinkt nach Scheiße“ ruft, kommt es fast zum Eklat. Ein Schoßhund der Prinzessin hat unter dem Tisch einen Haufen hinterlassen, aber sie beharrt darauf, dass ihr „ein kleiner Wind“ entfahren sei.
Die Brüder können es sich dank des elterlichen Erbes leisten, als Künstler zu leben, leiden aber darunter, in den höchsten Kreisen des Zweiten Kaiserreichs bloß Außenseiter, gewissermaßen also Schoßhündchen zu sein. Doch das „Doppelleben“ des Romantitels bezieht sich nicht nur auf ihr enges, beinahe an siamesische Zwillinge erinnerndes Zusammensein, sondern auch auf eine weitere Figur, die erst spät Aufmerksamkeit bekommt. Obwohl die Tagebuchschreiber für die Genauigkeit ihres Blicks berühmt sind, entgeht ihnen das Drama, das sich direkt vor ihrer Nase abspielt.
In Rückblenden fügt Sulzer die Biografie von Rosalie Malingre zusammen, die 1837 mit 17 Jahren als Zimmermädchen im Haushalt der Goncourts angestellt wird und zur Haushälterin aufsteigt. Rose ist „so unauffällig, wie es sich für ihren Stand geziemt“ und hat, wie es über eine Kollegin heißt, „Erfahrung im Huschen“. Sie kann kaum lesen und interessiert sich nicht fürs nächtliche Kritzeln ihrer Arbeitgeber, sorgt aber von morgens um 6 bis Mitternacht für saubere Wäsche, ordentliche Zimmer und regelmäßige Mahlzeiten. „Unverrückbar wie ein Möbelstück“ gehört sie zu den Brüdern.
Auf diese Form von Liebe, die ihnen das Dienstmädchen entgegenbringt, reagieren die Goncourts mit Ignoranz. „Hat sie Leidenschaften?“, fragt Edmond einmal. „Oh gewiss“, antwortet Jules. „Nur kennen wir sie nicht.“ Sie ahnen nicht, dass Rose >als Jugendliche von einem Kellner vergewaltigt worden war und eine Totgeburt erlitt.
Als „gebrauchtes Mädchen“ kommt sie für keine Ehe mehr infrage, verliebt sich in einen hallodrihaften Handschuhmacher, klaut für ihn Geld, bekommt von ihm eine Tochter, die nicht alt wird. Das alles erfahren die Goncourts erst, nachdem Rose an Tuberkulose gestorben ist und sich ihre Gläubiger bei ihnen melden. Statt sie zu verdammen, setzen sie der Magd mit ihrem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal.
Bald darauf beginnt der psychische Niedergang von Jules. Er kann einzelne Buchstaben nicht mehr aussprechen, die Worte zerfallen ihm. Kein Mensch, schreibt Sulzer, stand ihm jemals näher als Rose. Abgesehen natürlich von seinem Bruder. Edmond setzt das gemeinsam begonnene Tagebuch nach Jules’ Tod 1870 noch 25 Jahre alleine fort. Wenn heute von ihnen die Rede ist, etwa bei der Verleihung des Prix Goncourt, stellen wir uns die Brüder stets gemeinsam vor. Als Doppelwesen.
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