Rundgang über die Architekturbiennale von Venedig

Die Giardini, der Ort der nationalen Pavillons für die Biennalen von Venedig, sind angenehm bevölkert. Eine heitere Stimmung liegt über diesem bunten Ensemble von Bauten verschiedener Länder, Zeiten und Stile.

Wie auch anders, da sich doch ein seidenblauer Himmel über den herrlichen Bäumen spannt, die den Besuch der „Gärten“ zumal im Sommer so angenehm machen. Die Corona-Zeit scheint wie weggeblasen; und nur die Maskenpflicht, die in Italien streng kontrolliert wird, erinnert an den immer noch andauernden Ausnahmezustand.

Der Kanal von San Marco völlig schifflos

Am Nachmittag zuvor, bei heftig aufkommendem Regen, bot sich ein anderes Bild, da waren die kiesbestreuten Wege der Giardini nahezu leer; und am Abend gab es das einmalige Schauspiel eines vollständig schiffslosen Kanals von San Marco.

Der breite Strom zwischen dem majestätischen Ufer und der gegenüberliegenden Insel von San Giorgio wird ansonsten von zahllosen Vaporetti und Wassertaxis durchpflügt, Bugwellen kreuzen einander, und wirklich noch nie war ein so glatter Wasserspiegel zu sehen.

Venedig zählt auf die Anziehungskraft dieser 17. Architekturbiennale, die nach zweimaliger Verschiebung nun genau ein ganzes Jahr verspätet eröffnet wird, am diesem Sonnabend und sicherheitshalber ohne Zeremonie.

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Groß war das Rätselraten, ob die beiden Zentralausstellungen im ehemaligen Italien-Pavillon sowie in den stets mitbespielten Bauten des Arsenals fertig würden, und mehr noch die 65 Länderbeiträge unter den von Land zu Land unterschiedlichen Hygieneregeln. Doch es hat alles geklappt.

Selbst der russische Pavillon, am Vorabend noch eine geschäftige Baustelle, kommt zur Vorbesichtigung blitzblank geputzt daher, übrigens mit kaiserlichem Doppeladler auf dem – wie der ganze Bau des Jahres 1914 – renovierten Glasdach.

Was allerdings gegen die heiter-festliche Stimmung absticht, sind Thema und Tenor dieser Biennale. „Wie werden wir zusammenleben?“, fragt der zum Künstlerischen Leiter berufene Hashim Sarkis, Architekt und Theoretiker aus dem Libanon.

Klimawandel, Migration, Bodenverbrauch überschatten den Städtebau

Hinter der Frage, die man beim ersten Lesen für denkbar schlicht halten mag, türmt der 57-jährige Sarkis ein ganzes Bündel von Problemen auf – ebenjene, die uns als Weltgemeinschaft bedrücken, voran die nach der Zukunft des Planeten, was sich konkreter fassen lässt als Klimaveränderung, Ressourcenschonung, Migration, Bodenverbrauch, Verdichtung oder Inklusion. Das sind nur einige der Begriffe, die inzwischen jedes Gespräch über Architektur oder Städtebau überschatten.

Die Architektur läuft Gefahr, erdrückt zu werden, bürdet man ihr eine Problemlösungskompetenz für mal eben so alle drängenden Weltprobleme auf. Als gebürtiger Libanese ist der seit 2015 am renommierten MIT lehrende Sarkis mit Krisen als Alltagszustand vertraut genug, um nicht in bloße Schockstarre zu fallen.

Vielmehr hat er für die beiden von ihm geleiteten Ausstellungen eine Fülle durchdachter Arbeiten gefunden, die dem Besucher einerseits im eher erdkundlichen Padiglione Italia geduldig erklären, wie es um unseren Planeten und seine diversen Teile steht, andererseits im Arsenal in bisweilen poetischer Schönheit Modelle für Lebensmöglichkeiten vorspielen, durchaus auch jenseits von Architektur.

Glänzt mit seiner Leere. Der deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig. An den Wänden hängen nur QR-Codes.Foto: Federico Torra/dpa

Er bevorzuge „Installationen gegenüber Projekten“, wird Sarkis bei der obligatorischen, diesmal teilnehmerbeschränkten Pressekonferenz angegangen. Das stimmt durchaus. Aber es ist nicht schlimm, dass es an genuin architektonischen Projekten mangelt, weil so viel anderes geboten wird.

Ein begehbares Gebilde aus kreuz und quer verschnürten Fiberglas- und Karbonsträngen beispielsweise, aufgehängt hoch oben in der endlosen Raumflucht der einstigen Seilerei des Arsenals, wird unsere Art zu bauen gewiss nicht so verändern wie einst die Einführung des Stahlbetons, der den Verzicht auf Wände möglich machte.

Industrierroboter und 3D-Drucker

Auch die Industrieroboter und 3D-Drucker, denen sogar eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, bedeuten noch keine andersartige Architektur. Als ironischer Kommentar wirkt der Beitrag des für die einstige Technikmoderne stehenden Architekturgroßbetriebs SOM, der wieder mal eine Mondkolonie vorschlägt, hübsch im Modell und – untermalt von Hollywood-Filmmusik. War das nicht genau die Weltraumseligkeit der sechziger Jahre, die von den irdischen Problemen ablenken sollte?

Nein, ablenken wollen Sarkis und die von ihm gewählten Beiträge gewiss nicht. Ein Architektenduo von den Kapverden hat eine Art Vorhang aus Plastikflaschen ersonnen, die mit grün bis blau gefärbtem Wasser das Trügerische sogenannter Touristenparadiese anmahnen.

Im Eingangs-Oktogon des Italia-Pavillons hängt ein angedeutetes Gewölbe aus Hunderten Brocken von vulkanischem Glas, aus einer Höhle in Kenia, die als Unterschlupf und Gemeinschaftsraum diente. Ist das Architektur? Es berührt, neben dem bei dieser Biennale naturgemäß verhandelten Kolonialismus, die Frage nach Raum, die Sarkis so wichtig ist.

Im spanischen Pavillon. Die Installation “Uncertainly” auf der Architektur-Biennale.Foto: Alessandra Tarantino/AP/dpa

Gibt es Raum jenseits des leidigen Privateigentums? Wem gehört der Raum, wer darf ihn nutzen und wozu – das sind wiederkehrende Fragen, hinsichtlich von Architektur womöglich ergiebiger als die Installationen zu Weltklima oder Biodiversität.

Einmal meint man einem groß geratenen „Iglu“ des unvergessenen Arte-povera-Matadors Mario Merz zu begegnen, dabei ist es ein silberfolienbezogenes Klimazelt oder dergleichen; ein andermal ziehen drei Lavabrocken in einer begehbaren, nach bestimmten Pflanzen duftenden Glasvitrine die Neugier auf sich. Die Grenze zwischen Architektur und Kunst wird mehr als einmal verwischt, und bisweilen sieht man sich versehentlich in der alternierend abgehaltenen Kunstbiennale.

Dieselbe Unentschiedenheit von Installationen und Architekturprojekten durchzieht auch die nationalen Beiträge; soweit sie sich überhaupt zusammenfassen lassen. Zum Glück empfinden niemals alle Länder das vorgegebene Motto als verpflichtend.

Lob des Holzbaus

Dennoch finden sich gut gemeinte Grüne-Erde-Beiträge wie das Wasserkreislaufmodell der Dänen. Das Lob des Holzbaus singt der Nordische Pavillon und besonders die USA. Sie demonstrieren die landesweite Holzrahmenbauweise als genuinen Beitrag zur Architekturentwicklung, mit einem mehrgeschossigen Vorbau, der den – klassisch-palladianischen – US-Pavillon bewusst verdeckt, als sei der eine aufgezwungen Fremdübernahme.

Das mag einem erklärten Alt-Europäer auffallen. Stilistische Verfeinerung indes steht nicht auf dem Programm dieser Biennale. Es geht um Menschheitsfragen. Die greift Frankreich auf mit der Darstellung von Selbstermächtigung und Raumnutzung an Beispielen von Bordeaux bis Soweto.

Oder Japan mit Ressourcenschonung am Fall eines komplett in Einzelteile zerlegten und auf dem Boden ausgebreiteten unspektakulären Holzhauses. Oder Israel mit der Umweltzerstörung durch (über-)intensive Landwirtschaft am Beispiel des ausgetrockneten Huleh-Sees. Migration ist das Thema Rumäniens, dessen Bevölkerung den höchsten Anteil von (temporärer) Migration innerhalb der EU aufweist, mit Hunderttausenden Erntehelfern in Deutschland und mehr noch in Portugal und Spanien.

[Venedig, Giardini und Arsenale, bis 21. November. Zweibändiger Katalog 80 €. www.labiennale.org/en/architecture/2021]

Der deutsche Pavillon aber glänzt mit seiner Leere. Vollständig ausgeräumt und auf den Ursprungszustand von 1938 rückgeführt, mit Seitenfenstern und Oberlicht, prangt an den weißen Wänden eine Reihe von QR-Codes. Die sind überhaupt der Standard dieser Biennale; im Deutschen Pavillon aber das einzig Greifbare.

Die dahinterliegenden Videos kann man sich genauso gut am heimischen Bildschirm anschauen, oder unterwegs auf dem Smartphone. Das Projekt heißt „2038“ und soll einen optimistischen Blick einfangen aus dem Jahr, nachdem „die großen Krisen gemeistert“ waren.

Das Publikum geht dahin, wo es was zu sehen gibt

Schon diese Grundidee ist wagemutig; nun aber ganz auf sinnliche Präsenz zu verzichten – vorgeblich aufgrund der Corona-Restriktionen –, ist widersinnig an einem Ort wie Venedigs Biennale. Denn sie steht prototypisch für Begegnung und Austausch, für ein heiteres Miteinander, mag es auch temporär sein und nur für die globalen “happy few”, die im Sommer an die Lagune reisen können, nicht für die globale Mehrzahl, von der diese Biennale so eindringlich handelt.

Das Publikum der Vorbesichtigungstage jedenfalls lässt den deutschen Beitrag links liegen und geht dahin, wo es etwas zu sehen gibt, bunt, bewegt, dazu möglichst witzig. So wie der Britannien-Pavillon, der mit viel Grünpflanzen als „Garten der privatisierten Genüsse“ daherkommt.

Und witzig ist auch der architektonischste aller Länderbeiträge, derjenige der flämischen Hälfte Belgiens: eine Stadt in 1:15-Modellen von beliebigen Bauten des Landes, bunt aneinandergereiht als ein Lob der Vielfalt, in deren jeweiligem Eigensinn dann doch so etwas wie ein verbindendes, um nicht zu sagen nationales Element durchschimmert.