Flucht in die Filmwelt
Die Augen im Publikum werden immer größer, während Amitabh Bachchan seine Gegner verkloppt. Die Bösewichter fliegen einer nach dem anderen durch die Lagerhalle – bääm! Sehr zur Freude der Männer im Saal des afghanischen Kinos, die sich den Film mit dem Bollywood-Star ansehen. Beim anschließenden Song gibt es kein Halten mehr. Sie reißen die Arme in die Luft, springen auf und tanzen an ihren Plätzen.
So beginnt der Film „Kabul Kinderheim“ von Shahrbanoo Sadat. Die Regisseurin macht die Begeisterung ihrer Landsleute für die indische Filmindustrie spürbar. „Die gesamte afghanische Nation ist verliebt in die Bollywood-Filme“, sagt Sadat beim Interview im Neuköllner Wolf-Kino. Sie ermöglichten ihnen eine kurze Flucht aus ihrer harten Realität.
Ihr eigener Film spielt Ende der Achtziger, als eine pro-sowjetische Regierung die Demokratische Republik Afghanistan führt. Kurz bevor die Mujahedin, strenggläubige Widerstandskämpfer, Kabul einnehmen und das Land in einen islamischen Staat verwandeln. Die Parallelen zur aktuellen Lage in Afghanistan sind frappierend. „Die Dinge ähneln sich sehr, wenn man die Sowjetunion mit den USA, die Mujahedin mit der Taliban ersetzt“, erklärt Sadat. Doch diese Ähnlichkeiten sind nicht der Anstoß für die Regisseurin gewesen, „Kabul Kinderheim“ zu drehen. Das sei, Sadat sagt es so deutlich, die Liebe zu ihrem Freund Anwar Hashimi gewesen, auf dessen Tagebüchern der Film basiert. „Seine Geschichte hat mich vollkommen in ihren Bann gezogen.“
Hashimi hat seine Aufzeichnungen nie jemandem gezeigt, bis er Shahrbanoo Sadat kennenlernte. Beide arbeiteten damals für einen Fernsehsender. „Das war mein erster Job, als Produzentin einer Kochshow“, erinnert sich die Filmemacherin. Hashimi arbeitete für die Nachrichten, die beiden trafen sich während einer Kaffeepause in der Kantine. Zwei Jahre später erfuhr sie sogar, dass er eigentlich ihr Cousin ist. „Ein bisschen wie in Bollywood“, sagt sie und lacht.
Die 31-Jährige ist eine zierliche Frau mit bestimmtem, dennoch freundlichem Blick. Sie fixiert ihr Gegenüber, wenn sie ausführlich und mit großer Intensität antwortet. „Ich wollte eine ehrliche Geschichte über den Alltag in Afghanistan erzählen“, erklärt Sadat auf Englisch. „Anwars Geschichte ist auch meine Geschichte, die meiner Eltern, die Geschichte vieler Menschen dort.“
Da die Aufzeichnungen 800 Seiten lang sind, entschließt sie sich, fünf Filme daraus zu machen. Der erste Teil „Wolf and Sheep“, ihr Langfilmdebüt, gewinnt 2016 einen Preis in Cannes. Nun folgt Teil zwei: „Kabul Kinderheim“. Der Film rückt den 15-jährigen Qodrat (Qodratollah Qadiri) ins Zentrum der Handlung. Er lebt auf der Straße und vertickt Kinotickets auf dem Schwarzmarkt. Seinem Alltag entflieht der Jugendliche, indem er Bollywood-Filme schaut – er ist einer der Zuschauer, die in der Eingangsszene im Kino tanzen. Bis er geschnappt und in ein von den Russen betriebenes Waisenhaus gesteckt wird.
Shahrbanoo Sadat verleiht ihren Spielfilm-Bildern eine dokumentarische Qualität. Sie zeigt die Eingangsinterviews im Heim von Qodrat und anderen Jungen ohne Schnitt und Kamerabewegung. Die Darsteller:innen sind allesamt Laien, die Rolle des Aufsehers der Einrichtung übernimmt Anwar Hashimi selbst. Ihr ungekünsteltes Spiel, gepaart mit Sadats Blick für sprechende Details, lassen das Geschehen ungemein echt wirken.
Die Darsteller:innen sind allesamt Laien, das Geschehen wirkt ungemein echt
Die jungen Bewohner tauschen Fußball-Sticker, schwärmen von ihren Lehrerinnen und klauen Munition aus einem verunglückten Panzer. Doch Sadat verklärt die Coming-of-Age-Geschichte nicht. Sie lässt die Jugendlichen um die Hierarchie im Heim kämpfen. Dabei gesteht sie selbst den Bullys ihre eigenen leisen Momente zu. Der Film wechselt zunehmend zwischen den Protagonisten hin und her und zeichnet so ein präzises Bild vom Leben im Waisenhaus, wo Kinder aus völlig verschiedenen Schichten aufeinandertreffen.
Die Regisseurin kontrastiert diesen Alltag mit Sequenzen, die sie in Bollywood-Manier inszeniert. Da tanzen die Protagonist:innen, singen Playback zu alten Hits und fahren mit dem Moped durch Winterwälder (gedreht wurde in Tadschikistan, Dänemark und Schleswig-Holstein.) In den schönsten und schlimmsten Momenten der Handlung reist Qodrat in dieses Märchenreich – auch wenn die Mujahedin vor den Toren des Kinderheims auftauchen. Der Flucht in die geliebte Filmwelt haftet am Ende der bittere Beigeschmack des Ausweglosen an.
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Die Regisseurin ist im Iran zur Welt gekommen. Ihre Eltern waren zuvor aus der von Kämpfen zerrütteten Heimat geflohen. Erst Ende 2001 konnte die Familie nach Afghanistan zurückkehren. 20 Jahre war das Land danach Sadats Zuhause – bis vor zwei Monaten. Da musste sie selbst die Flucht antreten, gemeinsam mit neun Familienmitgliedern, die teilweise auf der Abschussliste der Taliban standen. Sie leben jetzt in Hamburg.
Die radikal-islamische Gruppe geht genauso kompromisslos vor wie in den Neunzigern. „Das Bild der moderaten Taliban ist eine Erfindung der internationalen Gemeinschaft, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“, sagt Sadat. Sie selbst hatte das Glück, ihr Geld bei Drehs im Ausland zu verdienen. Die Verbote für Frauen, zu arbeiten, zur Universität oder zur Schule zu gehen, griffen bei ihr nicht. Dennoch gab es etliche Beschränkungen, die sie betroffen haben: „Eine Frau darf kein Eigentum erwerben, sie darf nicht allein rausgehen und wenn sie es in Begleitung tut, ist genau bestimmt, was sie anziehen darf“, erklärt die Regisseurin. Viele Menschen, die sie kannte, hätten das Land bereits vor ihr verlassen. „Plötzlich hat es sich in Kabul angefühlt, als wäre ich schon in eine neue Stadt gezogen.“
[„Kabul Kinderheim“ läuft ab Donnerstag im Kino. Am 31.10.21 ist er vorab auf der Plattform kino-on-demand.com zu sehen.]
Dennoch will sie im nächsten Teil der Tagebuch-Verfilmungen, den sie vorbereitet, das Bild eines traurigen Afghanistans hinter sich lassen. „Die Realität ist tragisch, aber ich sehe nicht die Notwendigkeit, dieses Bild noch zu reproduzieren“, sagt sie. Der Film soll eine romantische Komödie werden und erzählen, wie sie und Anwar Hashimi sich kennengelernt haben. Sie will Hoffnung geben, mit ihrem Kino ein wenig Flucht ermöglichen. Also wiederum: alles ein bisschen wie bei Bollywood.