Wir schreiben uns unsere Musik einfach selbst
Klassikfans, die den Streamingdienst Spotify nutzen, ärgern sich oft darüber, dass dort sämtliche Musikstücke als „Songs“ bezeichnet werden. Eine Sinfonie besteht also nicht aus vier Sätzen, sondern aus vier Songs, und auch die Arien einer Oper werden Songs genannt. Beim neuen Album des Vision String Quartets allerdings passt die popkulturelle Kategorisierung ausnahmsweise einmal. Denn die vier Berliner Kammermusiker haben 13 selbst komponierte Stücke aufgenommen, die tatsächlich instrumentale Lieder sind. Fünf-Minuten-Miniaturen mit Singer-Songwriter-Anmutung, die nebenbei entstanden sind, während das Quartett eine steile Karriere im E-Musik-Business absolviert hat.
Für seine Debüt-CD beim Label Warner hatte das Vision String Quartet im Frühjahr Werke von Schubert und Mendelssohn ausgesucht, das Album „Spectrum“ zeigt jetzt eine andere Facette dieser Formation – die von ihrer inneren Einstellung her tatsächlich eine Band ist. Eine Clique von Studienfreunden, die hörbar Spaß daran haben, gemeinsam aufzutreten. Und die dabei manches anders machen, als es das Publikum klassischer Konzerte gewohnt ist: So spielen sie grundsätzlich auswendig und – mit Ausnahme des Cellisten – im Stehen.
Sie interessieren sich für weit mehr als nur für Klassik
Das ist kein Marketingtrick, sondern der Versuch, den Werken besonders nahe zu kommen. 2012, als die vier am International Chamber Music Campus auf Schloss Weikersheim teilnahmen, merkten sie während einer Probe, dass im Nebenraum ein anderes Quartett an genau demselben Stück arbeitete wie sie selbst. „Also haben wir uns an die Wand gestellt und versucht, auswendig mitzuspielen“, erzählt Geiger Daniel Stoll. Dabei stellten sie fest, dass sie einander viel aufmerksamer zuhörten als sonst und auch viel intensiver in die Partitur eintauchten. Also blieben sie dabei.
Und auch die stilistischen Interessen von Jakob Encke und Daniel Stoll, Sander Stuart und Leonard Disselhorst gehen weit über das Kernrepertoire der Klassik hinaus. Bei ihren Auftritten spielen sie mit großer Ernsthaftigkeit altbekannte Meisterwerke, aber sie begeistern das Publikum stets auch mit ihren hinreißenden Arrangements von Beatles- oder Benny-Goodman-Evergreens. Und eben mit selbst komponierten Stücken. „Spectrum“ haben die vier Freunde selbst produziert, im Kreativteam, so wie sie auch ihre Songs schreiben. Denn sie doktern „stets mit viel Eifer und Ideen gegenseitig an unseren Stücken herum“, wie sie im Booklet schreiben. Dennoch wird für die 13 Nummern jeweils ein Urheber genannt. Für acht zeichnet Jakob Encke verantwortlich, je zwei steuerten Stuart Sander und Leonard Disselhorst bei.
Viele Stile, viele Einflüsse
Aber man merkt, dass vieles aus der gemeinsamen Improvisation entstanden ist, wenn sich die vier beim Spielen gegenseitig herausfordern, wie Jazzmusiker bei einer Jamsession. Die Lässigkeit, die die zwischen 1990 und 1994 geborenen Musiker ausstrahlen, lässt sich nicht lernen.
Zu mehreren Stücken wurden sie von konkreten Orten inspiriert, bei Tournee- Stationen in Kopenhagen oder Rio de Janeiro, aber auch von einem einsamen Haus in Norwegen, wohin sich das Quartett zum Proben zurückgezogen hatte. Es gibt aber auch eine Hommage an die Band „The Strokes“, eine Coverversion der A-Cappella-Formation Pentatonix ist dabei und auch eine Verbeugung vor Enckes verstorbenem Großvater.
Jeder Track bietet neue Überraschungen, es gibt treibende Rhythmen und tanzbare Nummern, Einflüsse von Irish Folk, Anleihen bei der Minimal Music, eine nonchalant hüftschwingende Samba.
Alles wirkt spielerisch, manchmal auch verspielt, am meisten aber beeindruckt die Vielfalt an überraschenden Sounds, die die Musiker ihren beiden Geigen, der Bratsche und dem Cello entlocken. Mal meint man ein Akkordeon zu hören, dann eine Ukulele, eine Mundharmonika, Gitarren, eine Fiddle. Bei „The Shoemaker“ werden die vier zu Beatboxern, die Instrumente imitieren Entengequake, Sägegeräusche, Bongos und einen gezupften E-Bass – ein Kabinettstückchen der Coolness!