Mit spitzem Stift gegen Erdoğan und Co.: Die gesellschaftspolitische Kraft des Comics in der Türkei
An diesem Wochenende findet in Bochum zum zweiten Mal das bundesweite Branchentreffen „Comicexpansion“ statt, eine Fachtagung zur Comic-Kultur in Deutschland. Das Programm ist teilweise öffentlich, die Eröffnungsrede hielt am Freitagabend der renommierte Istanbuler Karikaturist und Comiczeichner Oktay Gençer, besser bekannt als Oky, der kürzlich aus der Türkei nach Deutschland übergesiedelt ist und in Berlin lebt.
Wir dokumentieren hier Okys Eröffnungsvortrag für die Veranstaltung, die von der Stadtbücherei Bochum, dem Literarischen Colloquium Berlin und dem Deutschen Comicverein organisiert wird. Die Rede mit dem Titel „Die gesellschaftspolitische Kraft des Comics aktuell am Beispiel der Türkei“ wurde von Judith Braselmann-Aslantas ins Deutsche übersetzt.
Ich bin aufgewachsen in Çengelköy, einem Stadtteil von Istanbul, der sich parallel zum Bosporus erstreckt und im Vergleich zu anderen Stadtteilen Istanbuls relativ grün ist.
Eines Tages, noch vor meiner Einschulung, wurde ich zum Lebensmittelladen Brot holen geschickt, doch anstatt mit Brot kam ich mit einer Kinderzeitschrift nach Hause, die ich im Schaufenster des Ladens entdeckt hatte. Auf der Titelseite des Hefts waren zwei Männer abgebildet, einer davon ein Cowboy. Der andere Mann zog den Cowboy am Ohr. Dieses Bild hat mich schwer beeindruckt, ich konnte mich wohl mit diesem Cowboy identifizieren, dem die Ohren langgezogen wurden. Er war wie ich, wer weiß, was der für einen Unfug gemacht hatte!
Als ich statt Brot diese Zeitschrift mit nach Hause brachte, wurden mit großer Wahrscheinlichkeit auch mir – wie immer, wenn ich was Ungezogenes getan hatte – die Ohren langgezogen. Später wurde dieser Cowboy namens Lucky Luke (auf Türkisch bekannt als Red Kit) zu einem der wichtigsten Helden meines Lebens, aber vor allem meiner Kindheit.
In meinen Kindheitserinnerungen dreht sich immer alles um Comics. Seit Gründung der Republik stießen Comics in der Türkei stets auf großes Interesse. Und meine Jugend fiel genau in die Zeit der späten 70er und 80er Jahre, als in der Türkei Kinderzeitschriften, Satiremagazine, internationale und türkische Comics ihr Goldenes Zeitalter erlebten.
Neben den für Kinder produzierten türkischen Comics, lernte ich Werke wie Asterix, Tim und Struppi (Türkisch: Tenten), Andy Morgan (Türkisch: Bernhard Prince), Blueberry, Buddy Longway, Tunga und Thorgal, die eher was für Erwachsene waren und meist aus Europa kamen, zunächst in den Jugendzeitschriften dieser Zeit kennen. Kein Abenteuer, das ich nicht von ihnen gelesen hätte. Dabei rede ich noch nicht einmal von den hunderten von Comicbänden, die damals unabhängig von diesen Zeitschriften solo herausgegeben wurden. Ich kann wirklich sagen, dass in der Türkei fast alle Comics der Welt einer nach dem anderen und in Serie veröffentlicht wurden.
Politische Zeichnungen am Puls des Tagesgeschehens
Ich bin immer sehr gerne zur Schule gegangen. Ich hatte jede Menge Hefte, Papier und Stifte. Die meisten Hefte habe ich mit eigenen Comics vollgeschrieben und -gezeichnet. So habe ich angefangen zu zeichnen. Erst nur für mich und dann auch für meine Freunde. Und was war mit der Schule und mit den Hausaufgaben? Für die hatte ich natürlich noch ein paar Hefte übrig, so schlimm war es auch wieder nicht.
In dieser Masse an Comics waren für mich, glaube ich, die Comics in den Satiremagazinen etwas ganz Besonderes. Das von Oğuz Aral gegründete Wochenmagazin Gırgır war das Auffälligste unter diesen Zeitschriften, es stand an vorderster Stelle. Mit seinem sich ständig erneuernden reichem Inhalt, seiner klaren politischen Haltung, die weder vor den Regierungen dieser Zeit noch vor den Oppositionsparteien zurückschreckte und mit einer Auflage von 300.000-400.000 Exemplaren war Gırgır zum Zugpferd der Zeitschriftenwelt geworden.
Ein politischer Titel, der das aktuelle Thema bestimmt, Seiten mit politischen Karikaturen am Puls des Tagesgeschehens, Kolumnen, eine Amateurseite mit Karikaturen von Cartoonisten aus nahezu allen Städten des Landes, Karikatursparten, die ihre Autoren mit der Zeit zu Stars machten und Comics gebündelt in einer Zeitschrift, das wurde zur Formel für den Grundaufbau von Satiremagazinen in der Türkei.
Alle Satiremagazine, die zur Zeit von Gırgır erschienen und alle die nachher auf den Markt kamen, arbeiteten nach diesem von Oğuz Aral erschaffenen Format. Sie verkauften sich fast alle richtig gut, wenn auch nicht ganz so gut wie Gırgır, und konnten über viele Jahre existieren.
Der Grund, warum die Comics in Gırgır meiner Meinung nach einen besonderen Stellenwert haben, ist, dass sie so viele Figuren beinhalten, mit denen wir uns identifizieren konnten. Die Charaktere dort waren uns, anders als in den anderen Comics, ähnlich, sie verhielten sich wie wir, sie sprachen wie wir.
Gırgır war im Kern eine Zeitschrift für Erwachsene und hatte keine einzige Kinderdarstellung. Und doch ähnelten die Charaktere dort unseren Eltern, unseren Verwandten, Nachbarn, Lehrern, dem Onkel vom Laden an der Ecke, dem Obst- und Gemüsehändler. Hier wurde die Sprache der Straße gesprochen, jede Menge Slang und das war alles total witzig.
Ein Haus voller Comic-Hefte
Als sich die Türkei während des Ausnahmezustands nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 immer mehr mit Verboten nach außen abschottete, war Gırgır eine der wichtigsten Quellen für Humor, die das Land zum Lachen brachten, und wurde mit einer wöchentlichen Auflage von bis zu 500.000 verkauften Exemplaren regelrecht zu einem Phänomen.
Nachdem dann immer mehr in der Zeitschrift ausgebildete Starzeichner anfingen, ihre eigenen Magazine herauszugeben, blutete Gırgır aus und als die Zeitschriftenrechte dann 1989 an eine andere Zeitung verkauft wurden, die für ihre Nähe zur damaligen Regierungspartei bekannt war, und die gesamte Besatzung der Texter und Zeichner aus Protest dagegen ihre Arbeit niederlegte, kam das Aus.
Spulen wir jetzt noch mal ein bisschen zurück und kehren zurück in die Mitte der 80er Jahre. Als das alles passierte, war ich damit beschäftigt, von meinem Taschengeld sämtliche Comics zu kaufen und zu sammeln, die mir unterkamen und meine Hefte mit selbstausgedachten Geschichten vollzuzeichnen. In die Gırgır-Zeitschrift zu kommen und mich in die Riege der Comiczeichner einzureihen, die ich verehrte, war nichts weiter als ein vager Traum.
Mein Vater war Seemann und reiste mit den Schiffen, auf denen er arbeitete, um die ganze Welt. Er schrieb Gedichte für eine von der Schifffahrtsgesellschaft herausgegebene Zeitschrift, die meist von den Abenteuern der Seeleute erzählten. Er war Literaturliebhaber. Solange ich die Schule nicht vernachlässigte, hatte er nichts gegen mein Faible für Comics.
Deshalb habe ich mich immer glücklich geschätzt. Ich hatte das ganze Haus vollgestopft mit haufenweise Comicheften. Eines Tages nahm mein Vater mich beiseite und sagte: „Wenn du dir diese Hefte weiter kaufen willst, musst du anfangen, selbst Geld zu verdienen.“ Über Bekannte fand er kleinere Gelegenheitsjobs für mich, wo ich in den Schulferien arbeiten konnte. Um mehr Comics zu kaufen, habe ich also in kleinen Betrieben gekellnert und bei einem Elektriker gearbeitet.
Der Vater öffnet die Tür zum Traumberuf
Aber obwohl es sehr verlockend war, mir mit dem selbstverdienten Geld so viele Comics zu kaufen, wie ich wollte, konnte ich in keinem der Betriebe wirklich Fuß fassen. „So wird das nichts“, sagte mein Vater, „nimm deine Zeichnungen und komm mit“, und brachte mich zu einem verhältnismäßig kleinen, aber auf seinem Gebiet in der Türkei doch bedeutenden Verlag, der unter dem Logo Alfa Yayınları Comics veröffentlichte.
„Der Junge hier denkt an nichts anderes als ans Zeichnen, nehmt in bei euch auf, lasst ihn hier arbeiten, damit er das, was er da tut, wenigstens richtig lernt. Dann hat er seinen Frieden und ich auch.“ Damals schämte ich mich sehr für diesen unverblümten Satz, den mein Vater zu Ali Recan sagte, dem Autor der Comics, die ich las, seit ich klein war und gleichzeitig Herausgeber des Verlages, aber es hat funktioniert.
Gut, dass mein Vater das gesagt hat. Ali Recan schaute sich meine Zeichnungen an und sagte: „Du kannst morgen kommen und anfangen“, und fügte hinzu: „Aber wir können nicht viel zahlen.“ Es war unglaublich! Die Summe von „Wir können nicht viel zahlen“ war viel, viel höher als mein Taschengeld und ich war in einem Gebäude, das bis oben hin vollgestopft war mit Comics. Was wollte ich mehr!
Ich kam in ein Comiczeichnerteam namens Hauptmann Volkan (türk.: Yüzbaşı Volkan) und fing damit an, Details wie Häuser und Bäume im Hintergrund zu zeichnen. Kurz darauf kaufte Alfa Yayınları eine alte Satirezeitschrift namens Salata auf, die zuvor von einigen anderen Verlagen verlegt worden war und gab sie mit neuen Comicautoren neu heraus. Und ich kam in den Kader dieser Zeitschrift.
Das Salata-Magazin verkaufte sich im Vergleich zu anderen Satirezeitschriften in der Türkei ziemlich schlecht, aber das war mir egal. Meine Zeichnungen wurden endlich veröffentlicht, diese Zeitschriften wurden an Händler verteilt und noch dazu bekam ich Geld dafür.
Bei Salata illustrierte ich sowohl die Geschichten anderer Autoren und gestaltete außerdem eine Seite, die nur aus eigenen Zeichnungen und Texten bestand. Auf dieser eigenen Seite zeichnete ich inspiriert von dem, was ich mit meinen Jugendfreunden erlebt hatte und was ich in meinem Viertel sah, meine Geschichten. Was könnte ich mit meinen Zeichnungen besser erzählen? Das war das, was ich am besten kannte.
Der Boom der Satiremagazine
Wenn ich jetzt auf diese Zeit zurückschaue, weiß ich, dass es das Herumflattern eines Anfängers im Lernstadium war, der nicht wusste, was und warum er das alles tat.
Nachdem zwei Jahre so vergangen waren, fing ich an, zusammen mit Freunden, die ich bei Salata kennengelernt hatte, anderen, nach der Zeit von Gırgır populären Satirezeitschriften, Aufträge zuzutragen. Ich zeichnete Karikaturen für die Zeitschrift Çarşaf, die von der Hürriyet herausgegeben wurde, damals einer der wichtigsten Zeitungen der Türkei.
Bei Çarşaf konnte ich nicht mehr, wie bei Salata, ganze volle Seiten zeichnen, war aber dafür jetzt in einem professionelleren Umfeld, im Stadtviertel Cağoğlu, dem Pressezentrum der Türkei in dem sich eine Zeitung und eine Zeitschrift neben der anderen befand. Gırgır war in einem Gebäude gleich zwei Straßen weiter.
Nach einer Weile nahm ich all meinen Mut zusammen, ging zu Gırgır und zeigte Oğuz Aral meine Arbeiten. Oğuz Aral sagte: „Komm nächste Woche vorbei, dann schauen wir, was wir mit dir machen.“ Das war 1988. Ein Jahr später würden die Leute, die Gırgır wegen des Verkaufs und Eigentümerwechsels verließen und grüppchenweise andere Zeitschriften herausgaben, so manch frisch gebackenem Comiczeichner, die wie ich einen Ort zum Veröffentlichen ihrer Zeichnungen suchten, neue Türen öffnen.
In dem Jahr bis zu ihrer Auflösung zeichnete ich, wenn auch sporadisch, Karikaturen für Gırgır und erfand Witze für die Meister. Das machte mir aber irgendwie keinen Spaß. Ich konnte mit Karikaturen nichts anfangen. Ich wollte einzelne Comicseiten gestalten und ganze Comics schreiben und zeichnen. Ich wusste, dass ich hart dafür würde arbeiten müssen und ich war inzwischen reif genug, um mir meiner Schwächen im Vergleich zu den Meistercartoonisten der Zeitschrift bewusst zu sein.
Als die Leute, die Gırgır vor der Zerschlagung verlassen hatten und diejenigen, die danach auf der Straße landeten, anfingen ein Magazin nach dem anderen herauszugeben, war der Markt auf einmal überschwemmt mit Satiremagazinen. Eine Menge Zeitschriften bedeutete eine Menge neuer Comiczeichner. Zusammen mit gleichaltrigen Zeichnern gingen wir zu irgendeiner dieser Zeitschriften, und wenn es dort nicht klappte zur anderen und dann weiter zur nächsten, ständig rückten wir denen auf die Pelle.
Schließlich bekamen wir unsere eigene Seite in diesen Magazinen, die in einer Auflage von über 100.000 Exemplaren erschienen. Bei jeder dieser Zeitschrift arbeiteten mindestens drei oder vier der Autoren und Zeichner aus den alten Satiremagazinen. Wir waren in Sicherheit. Wir zeichneten unserer eigenen Kolumnen und Seiten und gleichzeitig lernten wir von diesen Profis lauter neue Sachen über das Zeichnen und Geschichtenerzählen.
Neue Ära nach dem Putsch
Ein paar Jahre nach dem Putsch vom 12. September 1980, als das Militärregime zurücktrat und seinen Platz Turgut Özal überließ, brach in der Türkei eine neue Ära an. Auf den Titelseiten von Gırgır und den anderen Satiremagazinen war nun jede Woche Turgut Özal zu sehen. Und die Zeitschriften, die nach der Auflösung von Gırgır erschienen, führten die politische Haltung fort, die Gırgır zu seinem Prinzip gemacht hatte. Die neuen Satiremagzine waren im Vergleich zu den alten noch radikaler und brachten das, was sie zu sagen hatten, ohne Umschweife auf ihren Titelseiten.
Özal, der immer behauptete, er liebe Red Kit (Lucky Luke) und immer von seiner Leidenschaft für Comics und Satiremagazine sprach, der sogar die ihn kritisierenden Titelseiten der Satirezeitschriften einrahmen ließ und vor ihnen posierte, gab schließlich auf und verklagte die Satiremagazine. Diese wiederum ließen sich davon nicht einschüchtern, sondern wurden nur umso aggressiver.
Die Satiremagazine übten aber nicht nur Kritik an Politikern. Mit scharfer Zunge kritisierten sie das Fernsehen, die Presse, Geschäftsleute, die Probleme an den Universitäten, kurzum alles, was sie glaubten, das in diesem Land schiefliefe. Aber nicht nur mit dem aktuellen Geschehen in der Türkei, auch mit der Politik anderer Länder setzten sie sich intensiv auseinander.
Den größten Teil der Leserschaft dieser Zeitschriften bildeten immer schon die Studenten. Magazine, denen es nicht gelang, den Zeitgeist einzufangen, verloren zusehends an Auflagen und waren dann bald raus aus dem Spiel. Es wurden neue Ideen gebraucht, um mit der Zeit zu gehen, junge Autoren und Zeichner.
Die meisten Zeitschriften orientierten sich an Oğuz Aral. Sie gaben Amateurzeichnern von außen eine Seite, bildeten sie aus und nach einiger Zeit nahmen sie sie in der Zeitschrift auf. So schafften sie es, immer aktuell, jung und frisch zu bleiben. Ab Mitte der 80er Jahre bis Ende der 90er, konnte diese Gruppe junger Comiczeichner, zu der auch ich gehörte, sich in der immer größeren Anzahl von Zeitschriften in eigenen Kolumnen und auf eigenen Seiten nach Herzenslust erfolgreich austoben.
Die Herausgeber dieser Zeitschriften waren Profizeichner, die Helden unserer Kindheit. Wohl in Reaktion darauf, dass man sich, als sie in unserem Alter waren, ständig in ihre Arbeit eingemischt hatte, mischten sie sich fast gar nicht in unsere Zeichnungen ein. Wir waren also mit den großen Meistern zusammen und konnten gleichzeitig unsere eigenen Erfahrungen machen. Das war ein einmaliger Luxus.
Keine Helden, sondern normale Menschen
Eine Zeitschrift, für die ich damals arbeitete, war Pişmiş Kelle. Ihr Herausgeber Engin Ergönültaş, gehörte zu den Meistern von Gırgır, die inzwischen aufgelöst worden war. Er hatte zu Glanzzeiten der französischen Satiremagazine wie L`Écho de Savanes und Métal Hurlant dort gezeichnet und gehörte zu den wichtigsten Comicautoren in der Türkei.
Für mich persönlich war er der wichtigste. Mit Engin Ergönültaş zusammenzuarbeiten war eine unglaubliche Erfahrung. Von ihm habe ich eine ganze Menge gelernt. So unerfahren ich auch war, er hat sich fast nie in meine Texte und Zeichnungen eingemischt. Dieses freiheitliche Umfeld hat eine große Rolle gespielt bei der Herausbildung von neuen und großartigen Stilen.
Auch damals habe ich, vielleicht ein bisschen unbewusst, in meinen Geschichten und Zeichnungen wieder davon erzählt, was mir am nächsten war: von den Problemen mit meinen Freunden, den verzwickten Lagen, in die ich mit meinen Freundinnen geriet, wie ich meine Miete bezahlen sollte, von all dem, was mich in meinem Umfeld wütend oder traurig machte oder zum Lachen brachte.
Das Bedürfnis, von diesen Dingen zu erzählen, hatten die meisten Zeichner meiner Generation. Später sollten wir immer wieder mit der Kritik einiger Leser konfrontiert werden: „Die finden bloß kein anderes Thema, deshalb zeichnen sie sich selbst!“ Und trotz allem stieß das, was wir über uns selbst erzählten, auf Seiten der Leser ja auf Interesse.
Die meisten Leser der Zeitschrift waren Gleichaltrige und unsere misslichen Lagen waren auch ihre misslichen Lagen. Es amüsierte die Leser einfach, dass wir offen von unseren komischsten, bedauernswertesten und erbärmlichsten Zuständen und unserem ganzen Losertum erzählten. Wir waren nicht wie die anderen Comichelden. Wir waren keine Helden, sondern normale Menschen, die ständig verloren und in komische Situationen gerieten.
Zur gleichen Zeit waren sämtliche politischen Verwirrungen, mit denen sich die Türkei herumschlug, wie das Blutbad von Madımak, die Erdbeben und die unaufgeklärten Morde, die das Land erschütterten auf den Titelseiten und den ersten zwei, drei Seiten der Satiremagazine. Das aktuelle Tagesgeschehen in der Türkei hatte Priorität bei den Satirezeitschriften und ihre Haltung dazu gehörte ihrer Identität der.
Eine Zeitschrift im Besitz der Zeichner
Als junge Comicautoren zeichneten wir also neben unseren Kolumnen und eigenen Seiten auch Karikaturen und Titelbilder über das aktuelle Tagesgeschehen in der Türkei. Diese Zeitschriften, meist auf billigstem Zeitungspapier gedruckt, sodass man sie zusammenfalten und in die Hosentasche stecken konnte, bestimmten die aktuellen Themen und wurden vom Arbeiter bis zum Studenten, vom Künstler bis zum Politiker von allen Gesellschaftsschichten mit Interesse gelesen.
Jede Zeit hat eine meistverkaufte, eine beliebteste Satirezeitschrift, ein Zugpferd unter den Zeitschriften, für die alle jungen Cartoonisten arbeiten wollen. In den 1990er Jahren war das in der Türkei das Magazin Leman. Mit klarer Meinung auf den Titelseiten, reichem Inhalt, vielen Kolumnen und unterschiedlichen Karikaturstilen, in denen jeder etwas von sich wiederfand, und den sorgfältig gezeichneten Comics behielt Leman lange Zeit die Führung unter den Satiremagazinen.
Gleichzeitig brachte sie als Nebenpublikation Literatur-, Lyrik- und Reportagezeitschriften heraus. Sie verlegte jede Menge Bücher zusammengestellt aus Kolumnen und Comics aus der Zeitschrift. Eine der größten Besonderheiten von Leman war, dass sie unabhängig von irgendeiner Zeitung oder irgendeinem Verlag war, Leman finanzierte sich über das Eigenkapital von ein paar Comiczeichnern. Das war bis dahin einzigartig. Diese Autoren hatten endlich ein eigenes Magazin, für das sie ganz allein verantwortlich waren.
Die Ende der 90er Jahre von Leman herausgegeben Zeitschrift L-Manyak gehört für mich zu einem der wichtigsten Wendepunkte auf meiner Reise des Comiczeichnens. Als L-Manyak erstmals herauskam, war ich gerade damit beschäftigt, die Abenteuerreihe Sizinkiler von Salih Memecan zu zeichnen, die täglich in der Tageszeitung Sabah veröffentlicht wurde und außerdem als Jugendzeitschrift erschien.
Seit die Anzahl von Satiremagazinen in die Höhe geschossen war, begannen die Verkaufszahlen langsam zu sinken und die Satirezeitschriften zahlten vor allem den jungen Cartoonisten immer geringere Tantiemen. Ich war Ende zwanzig und musste langsam anfangen, mehr Geld zu verdienen.
Liebling der jungen Leserschaft
In diesen Jahren, die ich fern von den Satiremagazinen verbrachte, hatten sich die Zeitungshäuser in riesige Gewerbekomplexe verwandelt. Diese Gewerbekomplexe lagen meist außerhalb der Stadt und die Arbeitswege waren extrem anstrengend. Ich zeichnete die Figuren anderer, verdiente teilweise gut, war aber nicht glücklich. Wenn man in einer Metropole wie Istanbul kein Geld verdient, ist es unmöglich auf eigenen Beinen zu stehen.
Es war das zweite Jahr von L-Manyak und nachdem ich die Zeitschrift gründlich durchgelesen hatte, stand ich regelrecht unter Schock. Das war keine Zeitschrift wie die anderen. Das Format war etwas kleiner und es gab fast keine Karikaturen. Die Zeitschrift war voller Comics.
Die meisten der Comiczeichner bei L-Manyak waren Freunde in meinem Alter, mit denen ich bei anderen Magazinen zusammengearbeitet hatte. Ihre Arbeiten waren unglaublich. Jede Seite dieser Zeitschrift sprühte nur so vor Energie. Ich war schwer beeindruckt, ich musste unbedingt dabei sein. Wie ich über die Runden kommen sollte, war egal, ich kündigte von einem Tag auf den anderen bei dem Zeitungshaus, in dem ich arbeitete, und ging sofort zu L-Manyak.
Herausgeber der Zeitschrift war Bahadır Baruter, ein vielseitiger Künstler, der später eine bedeutende Karriere mit seinen Bildern und Skulpturen machen würde. Wir hatten schon früher in einigen Zeitschriften zusammengearbeitet. Bahadır öffnete mir, ohne zu zögern, Tür und Tor seiner Zeitschrift. Ich würde so viele Seiten zeichnen können, wie ich wollte.
Zu dem Zeitpunkt war L-Manyak längst populär geworden und zum Liebling der jungen Leserschaft avanciert. Da sie sich gut verkaufte, waren auch die Seitentantiemen ziemlich gut. Ich würde wieder meine eigenen Geschichten erzählen und würde davon leben können.
L-Manyak war keine politische Zeitschrift, aber sie war aktuell und innovativ. Sie erschien monatlich, hatte eine höhere Seitenzahl. Es gab eine Menge Comicfiguren darin und sie traten wie eine Gang auf. In all den durchgemachten Nächten in der Zeitschrift und in der wenigen Freizeit, die wir neben dem Zeichnen hatten, redeten wir ständig übers Zeichnen.
Während ich bei L-Manyak arbeitete, kam es wieder zu einer Trennung. Mit denselben Zeichnern, gleicher Aufmachung und gleichem Inhalt kam das Magazin Lombak auf dem Markt. Ich habe viele Comicfiguren für Lombak erfunden. Die bekanntesten meiner Charaktere habe ich in dieser Zeit gezeichnet.
Erdoğans Kampf gegen die Satirezeitschriften
Ich erinnere mich, wie ich damals Tag und Nacht geschrieben und gezeichnet habe. Meine Bücher mit gesammelten Zeichnungen aus dieser Zeitschrift wurden eins nach dem anderen herausgegeben. Es war eine sehr intensive Zeit.
Dann tat sich eine Gruppe von Zeichnern, die Leman verlassen hatte, mit Bahadır Baruter zusammen und brachte eine Wochenzeitschrift mit politischem Inhalt heraus. Diese Zeitschrift mit dem Namen Penguen wurde zum neuen Marktführer.
Während wir in den Monatszeitschriften die Abenteuer unserer Comichelden weitererzählten, zeichneten wir gleichzeitig politische Karikaturen für das Wochenmagazin Penguen und erfanden neue Comicfiguren für diese Zeitschrift.
Es war Anfang der 2000er und die Satirezeitschriften führten ihre fest verwurzelten Traditionen fort. Jetzt fanden sich auf den Titelseiten Karikaturen des Parteiführers der neuen Regierungspartei, welche die Ideologie des politischen Islam zum Grundsatz hatte: Tayyip Erdoğan.
In den seit damals vergangenen 22 Jahren wird Tayyip Erdoğan erst Präsident werden, dann wird er Dank des durch Verfassungsänderung eingeführten Präsidialsystems als parteigebundener Staatspräsident auf den höchsten Posten der Republik aufsteigen und zusammen mit seiner Partei niemals die Führungsposition in der Türkei verlieren.
Im Jahre 2005 verklagte Erdoğan die Zeitschrift Penguen zum ersten Mal und dieser Prozess fand in der in- und ausländischen Presse große Beachtung. Erdoğan und seine Partei verloren den Prozess und wurden nach all diesen Entwicklungen noch wütender und sollten noch viele weitere Satiremagazine verklagen.
Penguen hat über die Jahre nichts von seiner Stärke eingebüßt und viele Comiczeichner aus der Generation nach uns zu Stars gemacht. Ein befreundeter Zeichner meiner Generation und ich taten uns schließlich mit vier Zeichnern der neuen Generation von Penguen zusammen und brachten 2007 das brandneue Satiremagazin Uykusuz heraus.
Vom Zeichner zum Verleger
Auch wenn von Seiten der Leser oft kritisiert wird, dass Satiremagazine sich ständig abspalten und vermehren, so bringt es doch die Presseerklärung des Herausgebers und Comiczeichners einer Zeitschrift, von der wir uns getrennt hatten, auf den Punkt: „Sie sind erwachsen geworden und sind in ihre eigenen vier Wände gezogen.“ Das war immer schon so. Sie hatten es früher auch getan. So funktionierte das seit jeher.
Was die Satiremagazine von den anderen Zeitschriften am meisten unterscheidet, ist, dass sie aktuell und populär sein müssen. Wenn ein Magazin populär ist, sich aber nicht gut verkauft, wird es unmöglich, die Tantiemen seiner Zeichner zu bezahlen. Deshalb wird dann die Auflagenzahl gesenkt und in kürzester Zeit geht es ein. Dadurch, dass sie sich mit Themen von Randgruppen beschäftigten ist es den Satirezeitschriften gelungen, trotz ihrer Popularität stets „underground“ zu bleiben.
Als Uykusuz, die mit einer Auflage von 40.000 begonnen hatte, eine Verkaufszahl von 70.000-80.000 Exemplaren erreicht hatte, gehörte sie im Wechsel mit Penguen zu den beiden meistverkauften Zeitschriften ihrer Zeit. Kurz darauf wurde sie die meistverkaufte. Ich arbeitete für eine Zeitschrift, die wenn auch gemeinsam mit fünf weiteren Teilhabern, mir gehörte.
Das war, wenn es auch anfangs sehr verlockend schien, die anstrengendste und aufreibendste Zeit meiner Karriere als Comiczeichner. Arbeitgeber für meine Freunde zu sein, mit denen ich vorher Seite an Seite in der gleichen Zeitschrift gearbeitet hatte, und die Verantwortung, die ich ihnen gegenüber verspürte, waren neu für mich. Hauptthema unserer regelmäßigen Zeitschriftkonferenzen waren nicht die Zeichnungen, sondern das, was im Hintergrund nötig war, um die Dinge am Laufen zu halten.
Mit der Zeit bekamen wir noch einen Verlag hinzu, in dem wir jede Menge Bücher herausgeben würden. Wir verlegten andere Magazine. Brachten lauter Nebenartikel wie Poster, Tassen und Kalender bedruckt mit unseren Comicfiguren auf den Markt. Die Messestände von Uykusuz auf den Buchmessen in den verschiedenen Städten der Türkei, die Autogrammstunden und Panels stießen auf großes Interesse. Das alles hatte es auch schon bei den Zeitschriften gegeben, für die wir vorher gearbeitet hatten, aber da uns die Einzelheiten nicht betrafen, hatten wir uns damals einfach nur auf unsere Arbeit konzentriert.
Gewalt und Proteste
In der Zeit, die uns neben all dieser Arbeit noch blieb, arbeiteten wir an unseren Kolumnen und Comicseiten. Ich für meinen Teil spürte, dass meine kreative Produktivität anfing nachzulassen. Nicht nur ich, auch die Freunde, mit denen ich die Zeitschrift gegründet hatte, litten unter dieser Situation.
Während wir mit all dem beschäftigt waren, versuchten wir unsere Satirezeitschrift so gut zu machen, wie möglich. Wir waren sehr darum bemüht, hier keine Abstriche zu machen. Sechzehn Jahre lang, von 2007, als Uykusuz zum ersten Mal erschienen war, bis sie im Januar 2023 dicht gemacht wurde, war die politische Lage in der Türkei stets sehr in Bewegung.
Im Jahr 2013 wollten Tayyip Erdoğan und seine Regierungspartei den Gezi-Park im Herzen von Taksim abreißen, indem sie seine Bäume fällten oder herausrissen, und an seiner Stelle die moderne Version eines bis zu den 1940er Jahren dort stehenden, in Vergessenheit geratenen Gebäudes namens Topçu Kışlası errichten, ohne dass sie hierfür eine Baugenehmigung hatten.
Daraufhin organisierte eine kleine Gruppe von Leuten einen Sitzstreik im Park, um den Gezi-Park zu verteidigen. Diese Aktion wurde durch extreme Gewalt der Sicherheitskräfte niedergeschlagen. Die Art der Niederschlagung rief große Empörung hervor und so fingen die Gezi-Proteste an.
Das Zentrum der sich wie eine Lawine überall in der Türkei ausbreitenden Proteste war Taksim. Zu dieser Zeit befanden sich die Büros von Uykusuz und den anderen Satiremagazinen in der Umgebung der als Hauptschlagader von Taksim geltenden İstiklal-Straße in Beyoğlu.
Meine Wohnung lag gleich hinter Taksim, in Cihangir. Die meisten Comiczeichner lebten hier. Wir waren mitten im Geschehen. Überall waren Wasserwerfer. Eine ganze Zeit lang sind wir jeden Tag durch mit Pfefferspray vernebelte Straßen zur Zeitschrift gelaufen. Die Titelseiten der Zeitschrift und die Karikaturen im Innenteil, die Texte und Zeichnungen drehten sich alle um den Gezi-Park. Das ging monatelang so.
Neue Herausforderungen durch Soziale Medien
Auch nach den Gezi-Protesten kam die politische Lage in der Türkei einfach nicht zur Ruhe. Satiremagazine, und so auch Uykusuz, wurden von der Regierungspartei mehrfach verklagt. Die Lage beruhigte sich nicht, das politische Chaos fand kein Ende.
Jeden Tag passiert etwas, was das Geschehen an einen anderen Ort verlegte, aber wir brauchten mehrere Tage, um die Zeitschrift zu gestalten, in den Druck zu bringen, herauszugeben und zu verteilen. In der Zwischenzeit veralteten unsere Karikaturen angesichts der sich ständig verändernden Lage und wurden sinnlos.
Es gab jetzt die Sozialen Medien. Die Menschen verfolgten das ganze Geschehen dort unmittelbar, mit ihren Kommentaren wurden sie Teil der Nachrichteninhalte und sie konnten von ihren Social Media Accounts aus Unmengen an Inhalten teilen. Die Sozialen Medien verfügten über tausende von satirischen Inhalten und boten den Leuten die Möglichkeit, sich frei auszudrücken. Die Satiremagazine, die es stets geschafft hatten, innovativ zu sein und sich zu erneuern, hinkten zum ersten Mal ihrer Zeit hinterher.
Bereits seit Mitte 2010 hatten die Satirezeitschriften angefangen zu schwächeln. Zuerst wurde Penguen, und nach ein paar Jahren auch Uykusuz dichtgemacht. Danach kam keine neugegründete Zeitschrift der neuen Zeichnergeneration mehr nach.
Das lässt sich, glaube ich, nicht auf einen einzigen Grund zurückführen. Das mag an der Wirtschaftskrise im Land gelegen haben, an den gestiegenen Papier- und Druckkosten, an der neuen Generation von Comiczeichnern, die sich nicht mehr an Zeitschriften wendete, sondern ihre Zeichnungen lieber über ihre Social-Media-Accounts teilte und vielen anderen Dingen mehr.
Seit längerer Zeit gibt es nun in der Türkei keine neue Satirezeitschrift mehr, die die Massen begeistern kann. Und doch ist mir nicht danach, zu sagen „ihre Zeit ist um“. Es gibt immer noch ganz wichtige Zeichner und Autoren, sowohl diejenigen, die in den Satirezeitschriften großgeworden sind, als auch die, die nie in diesen Zeitschriften waren.
Vielleicht kann man da, bevor die Sache einschläft, in einem anderen Format noch mal was machen.
Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich teilhatte an der langen Reise der Satirezeitschriften, die in der Türkei über die Jahre eine einmalige Kultur erschaffen haben, dass ich einen Beitrag zu dieser Ära geleistet habe und Teil dieses außergewöhnlichen Abenteuers war.
Bis heute habe ich 35 Jahre meines Lebens mit dem Schreiben und Zeichnen in Satiremagazinen verbracht. Ich habe mich angefreundet mit so vielen Comicautoren, den Helden meiner Kindheit, und habe Seite an Seite mit ihnen gearbeitet. In vielen Satirezeitschriften hatte ich meine eigenen Seiten. Ich habe unzählige Figuren erschaffen, jede Menge Bücher herausgegeben. Und ich habe es irgendwie sogar zu einer eigenen Zeitschrift gebracht.
Bereits während meiner jahrelangen Arbeit in den Satiremagazinen hatte ich immer die Idee im Hinterkopf, etwas außerhalb der Türkei zu machen, mit globaleren Geschichten Comicleser auf der ganzen Welt zu erreichen. Aufgrund des hohen Arbeitstempos der Zeitschriften, bei denen ich arbeitete, habe ich dafür aber nie die Gelegenheit gefunden.
Jetzt lebe ich seit einiger Zeit in Berlin und arbeite, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, dass ich etwas in den Druck bringen muss, an neuen Comics.
Kurz gesagt, es hat sich nicht wirklich was verändert, ich zeichne immer noch.