Hart im Nehmen wie eine Preisboxerin

Politische Grenzen lassen sich leicht markieren, wie man an den Rändern Europas täglich sehen kann. Juristische Grenzen sind dagegen symbolischer Natur, ein Übertritt zieht dennoch Konsequenzen nach sich.

Die 35-jährige Margaret hat ihre Mutter brutal attackiert, die Eröffnungsszene von Ursula Meiers Wettbewerbsbeitrag „La ligne“ unterspielt den Gewaltausbruch als eine sedierte Choreografie in Zeitlupe. Tassen und Schallplatten fliegen gegen Wände, und am Ende landet Christina (Valeria Bruni Tedeschi) mit dem Kopf auf dem Piano. Das Gericht belegt Margaret (Stéphanie Blanchoud) mit einer Kontaktsperre, sie darf sich dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Marion (Elli Spagnolo) lebt, nur auf hundert Meter nähern, sonst droht ihr Gefängnis.

Wie so viele Grenzverläufe ist auch dieser willkürlich gewählt. Aber die zwölfjährige Marion, die ihre große Schwester vermisst, sie aber auch nicht im Gefängnis sehen will, hat eine so einfach wie plausible Idee: Sie zieht mit blauer Farbe eine Demarkationslinie um das Haus, damit sie weiter bei Margaret Gesangsunterricht nehmen kann. Das Verlängerungskabel für den Verstärker reicht gerade bis zur Linie, wo Margaret jeden Tag auf ihre Schwester wartet.

Symbolisch ist auch der Konflikt, den die Schweizer Regisseurin und ihre Ko-Autorin Blanchoud zeichnen. Sie geben keine Vorgeschichte zu dem Vorfall, verzichten auch auf psychologische Erklärungen. Margarets ehemaliger Partner Julian (Benjamin Biolay), bei dem sie notdürftig unterkommt, deutet lediglich an, dass auch ihre Beziehung, sowie ihre Band, an den Wutausbrüchen zerbrach: Jeden Abend prüft er Gesicht und Arme auf Blutergüsse und Schnittwunden. Blanchoud wirkt fragil, aber sie ist hart im Nehmen wie eine Preisboxerin.

Auch im zweiten Wettbewerbsfilm am Freitag hat die Gewalt die Familien zerrissen, nur lässt sich diese hier nicht mehr mit einer Linie ausgrenzen. Die Drogenkartelle haben in Natalia López Gallardos Regiedebüt „Robe of Gems“ das soziale Gewebe einer mexikanischen Kleinstadt zersetzt. Täglich werden Leichen auf staubigen Seitenstraßen und Müllkippen gefunden, die Kartelle kontrollieren die Polizei. Die Haushälterin María (Antonia Olivares) sucht ihre seit einem Jahr vermisste Schwester, einzige Verbündete ist Isabel (Nailea Norvind), die nach einer Trennung mit ihren zwei Kindern in das Haus ihrer Mutter einzieht, das María versorgt. Die Dritte in diesem Geflecht aus Machismo und patriarchaler Gewalt ist die Polizistin Roberta (Aida Roa), die mitansehen muss, wie sich ihr Sohn in die Machenschaften der Kartelle verstrickt.

Das zerschundene Gesicht von Stéphanie Blanchoud berührt

Ein starkes weibliches Ensembles, zwei Regisseurinnen, die das Verhältnis von Familie und Gewalt erkunden: „La ligne“ und „Robe of Gems“ geben ein interessantes Doppel ab, auch beide Filmemacherinnen sich ihrem Thema von zwei gegensätzlichen Positionen aus nähern. Bei López Gallardo ist die Gewalt stets eine latente Bedrohung, die im Hintergrund lauert. Sie benutzt lange Einstellungen, in die die Kamera von Adrian Durazo immer wieder hineinkriecht.

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María (Antonia Olivares) sucht in „Robe of Gems“ ihre Schwester.Foto: Visit Films

Die Menschen stehen in diesen Tableaus meist am Rande, die ganze Aufmerksamkeit der Regisseurin gilt María, Isabel und Roberta. López Gallardo hat bisher als Editorin an den Filmen von Carlos Reygadas, Lisandro Alonso und Amat Escalante gearbeitet – ein Einfluss, der nicht zu übersehen ist. Ihr spröder Naturalismus könnte gelegentlich etwas mehr Poesie vertragen, die harsche Realität dominiert nahezu jedes Bild, es gibt kein Innen und kein Außen mehr.

(La ligne: 12.2, 9 Uhr (Cinemaxx) & 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 13.2., 15 Uhr (Cubix), 19.2., 18 Uhr (F-Palast); Robe of Gems: 12.2., 15 Uhr (Cubix), 14.2. 15 Uhr (Cubix), 17.2., 21 Uhr (International), 20.2., 15 Uhr (Cubix))

Wo in „Robe of Gems“ der rigide Formalismus das Publikum auf Distanz hält, berühren in „La ligne“ ausgerechnet die Close-ups auf das zerschundene Gesicht von Stéphanie Blanchoud. Margaret will sich buchstäblich in ihre Familie zurückkämpfen. Ihr Spiel ist ungemein körperlich, immer an der Grenze zur Explosion. Zur Ruhe findet sie erst mit ihrer Musik, auch das einzige, was sie mit der Mutter verbindet. Man kann ihre allergische Reaktion auf Christina allerdings gut nachvollziehen. Valeria Bruni Tedeschi spielt die Rabenmutter und alternde Popdiva ohne sozialen Filter – und in mehr als einer Szene kurz vorm Overacting. Das sind ungewöhnliche Misstöne für Meier, aber auch für „La ligne“, weil Bruni Tedeschi in einem anderen Film zu spielen scheint als Blanchoud und Spagnolo.

So fragt man sich, wen die titelgebende Linie eigentlich von wem fernhalten soll. Margaret, Marion und ihre mittlere Schwester Louise (India Hair), die gerade Zwillinge bekommen hat, bilden eigentliche – ganz ohne Mutter und Vater – eine schöne Schicksalsgemeinschaft. Das Drama in „La ligne“ wirkt da eher ein Drehbuchkonstrukt. Die Mädchen verstehen sich über Grenzen hinweg.