Von Masken-Küssen und Wassermelonen
Ahmed steht vor einer Leinwand, auf der sich Schauspielerinnen mit Maske Küsse zuwerfen, und zeigt auf das, was er hier sieht. „Da ist nix“, seine Hand wandert eine Runde mit den im Kreis aufgereihten Häusern mit, „da is auch nix mehr“, weiter rum am geschlossenen Kino vorbei, „da ist schon lange nix“.
Gerade wird die Berlinale eröffnet, am Potsdamer Platz soll eine Diskokugel am Roten Teppich alte Zeiten herbeiglitzern. Ein paar Meter weiter im Sony Center hebt der in Ägypten geborene Ahmed runtergeschmissene Masken auf. Er kennt alle Leute hier, jede Ecke. Seit 21 Jahren säubert er den Potsdamer Platz. Sein Fazit: „Nix mehr los.“ Corona sei wie der Dritte Weltkrieg: „Menschen sterben, Plätze sterben, alles geht kaputt.“
Als hier alles neu los ging, auf der Trümmerbrache des Todesstreifens, da tanzten noch Baukräne zur Musik. Der Potsdamer Platz verhieß eine neue Mitte von Berlin. Und das Sony Center ein rundes Schaufenster für Touristen. Die kamen vor allem aus dem Osten, um Westen zu gucken – Zony Center.
Bei der Berlinale läuft ein Film über den Potsdamer Platz. Er heißt „Leere Mitte“ und zeigt die Brache auf dem zugeschütteten Führerbunker und der abzureißenden Teilung. Im Schlamm protestieren Bauarbeiter gegen Dumpinglöhne beim Neubau Berlins. Als alles fertig ist, gehen Eigentumswohnungen für 300 000 Mark weg. Inzwischen kosten sie 800 000 Euro. Und wofür?, fragt Ahmed, während er einen Mülleimer leert: „Eine kleine Bude voller Glas und Laminat.“
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Was wird aus Innenstädten, wenn Leute nicht mehr in sie reingehen? Weil niemand mehr rausgeht.
Der Eröffnungsfilm „Peter von Kant“ spielt nur in einer Wohnung – in dem lustigen, traurigen, mitreißenden Kammerspiel gehen Lieben und Leiden ein und aus. Wer geht da noch aus? Im Film erklingt ein Lied: „Jeder tötet, was er liebt. Nur stirbt ein jeder nicht daran.“ Danach erzählt…
Huch, der Eröffnungsfilm bricht ab. Raunen im Berlinale-Palast. Und zwei Fragen: Wie kann ein digitaler Film überhaupt reißen? Und geht’s überhaupt noch weiter?
…weiter geht’s. An der falschen Stelle.
Filmriss bei der Festival-Eröffnung: Kann ein digitaler Film überhaupt reißen?
Nach der Premiere treffe ich Marius Müller-Westernhagen am Ausgang. Er fand die Eröffnung trotz Riss hinreißend: „Auch wenn man lange zu Hause hockt, kann man kreativ sein“, sagt er, während er am Arm seiner Frau aus dem Palast schreitet. Im Lockdown habe er viel nachgedacht, neue Lieder geschrieben. Und sich zuletzt gegen die Vereinnahmung seiner alten gewandt. Auf Instagram postete er ein Foto von seiner Impfung – angefügt der Titel seiner Hymne „Freiheit“. Westernhagen sagt: „Ich hatte gehört, dass die mein Lied bei den Corona-Demos spielen.
“Da wurde es Zeit für dieses Zeichen.“ Als Mensch muss man seine Mitte nicht verlieren. Selbst wenn die Stadt sie verloren hat.
Im Zony Center steht ein Brunnen, der nicht mehr sprudelt. Als hier noch Trubel war, hat mal jemand eine Wassermelone reingeschmissen. Die Sicherheitsleute bekamen Schiss, versteckten sich: eine Bombe am Potsdamer Platz?
Ahmed, der Putzmann, holte seine Gummistiefel und das Ding aus dem Wasser. „Zu Hause hab ich die Melone aufgegessen.“ Er selbst wohnt in Reinickendorf, „da wo die armen Leute sind“. Und das echte Leben nicht abreißt.