Der Papst feiert die Literatur : Seine Worte nicht nur in Gottes Ohr
Man hätte das jetzt nicht unbedingt für möglich gehalten, aus den Worten oder einer Schrift von Papst Franziskus, im Grunde jemals von irgendeinem Papst vor oder nach ihm, ein Zitat von Marcel Proust, von T.S. Eliot oder Jorge Luis Borges zu vernehmen, in diesem Fall überhaupt eine lange Ansprache zur Literatur an sich.
Diese hat der Papst jüngst in einem Brief publiziert, und zwar über die „Bedeutung der Literatur in der Bildung“. Darin bezieht sich Franziskus, vor dem Hintergrund der Ausbildung von Priestern, die er ursprünglich im Sinn hatte, „auf den Wert der Lektüre von Romanen und Gedichten auf dem Weg zur persönlichen Reifung.“
„Radikaler Kurswechsel“
Es beginnt in den 44 Abschnitten, die dieser Brief enthält zunächst mit der Konkurrenz zu den audiovisuellen Medien, die auch bei der Priesterausbildung mehr und mehr den Vorrang vor dem Wort haben, also bei denen „die sich auf dem Weg zum geweihten Amt befinden“. Einen „radikalen Kurswechsel“ will Franziskus da mit seinem Brief vorschlagen, um auf dem kurzen Umweg über den Zusammenhang von Glaube und Kultur dann wirklich das hohe Lied auf die Literatur zu singen.
Franziskus zitiert also zum Beispiel Proust und seinen Satz von den Freuden und den Unglücken, die in Romanen erlebbar würden und „für die wir im Leben ganze Jahre bräuchten, um sie auch nur im Geringsten zu kennen, und von denen sich uns die intensivsten nie offenbaren würden, weil die Langsamkeit uns daran hindert, sie wahrzunehmen“; er zitiert T.S. Eliots Formulierung von der „emotionalen Unfähigkeit“, auf der die Krise des Glaubens beruhe, er zitiert Borges, der die Literatur als viel wichtiger und als wesentlicher empfand, als sich „auf Ideen und kritische Kommentare zu fixieren.“
Der Papst arbeitet heraus, dass es um „Fragen der Ausdrucksform und des Sinns“ gehe, dass Empathie den Ausschlag gebe beim Lesen, dass die Literatur „eine Schule der Unterscheidung“ darstelle und wie wichtig Langeweile sei.
Franziskus versucht in seinem Brief tatsächlich, die Literatur in ihrer ganzen Komplexität, Schönheit und Tiefe zu begreifen – auch Prousts Teleskop ist dabei, um „den großen Abstand“ zu wahren, das „Gelesenwerden“, die Tatsache, dass erst der Leser, die Leserin, Texte vollständig werden lassen erst, die Schwierigkeit moralischer Unterscheidungen etc. Man muss kein Priesterlehrling sein, auch kein gläubiger Mensch oder Anhänger der katholischen Kirche, um Franziskus dafür Respekt zu zollen und das Fleisch Jesu einfach mal Fleisch sein zu lassen.
Und klar: Es wäre großartig, wenn Franziskus damit nicht nur bei seinen Zöglingen und dem Feuilleton Gehör finden würde, sondern auch, sagen wir: bei TikTok, bei den Teenagern dieser Welt. Aber das ist wohl ein zu frommer Wunsch.