T.C. Boyles neuer Roman „Blue Skies“: Die Apokalypse hat schon stattgefunden
Die Geschwindigkeit, mit der der amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle seine Romane schreibt und veröffentlicht, lehrt immer auch ein wenig das Fürchten: Kommt da jetzt wieder eine Boyle-Geschichte, die einfach nur routiniert und manchmal etwas zu lang geraten ist, so wie zuletzt „Sprich mit mir“ oder „Die Terranauten“? Oder wartet der inzwischen 74-jährige mit einer positiven Überraschung auf, einem wirklich guten Roman, so wie 2015 mit „Hart auf Hart“?
Lederjacke, Ohrring, Converse
Der dieser Tage veröffentlichte Roman „Blue Skies“, T.C. Boyles fünfter innerhalb von acht Jahren, sein 19. Roman überhaupt, so viel gleich vorweg, gehört wieder zu der besseren, großartigeren Sorte. Wirklich unterhaltsam ist er überdies. Noch immer gilt Boyle bekanntermaßen als Rockstar der US-Literatur, als ein Autor, der gern tief in der Popkultur seiner Heimat gräbt, unter anderem mit Romanbiografien über den Sexualforscher Alfred C. Kingsey, den Cornflakes-Mogul John Harvey Kellog oder zuletzt den LSD-Erfinder Timothy Leary.
Dieses Rockstar-Image pflegt er nicht zuletzt mit einem Style, der etwas altertümelnd zwischen Grunge und Postpunk changiert, mit Lederjacke, Ohrring und Converse. Doch in Boyle wohnt auch ein Zivilisationsskeptiker, ein ökologisch bewusster Mensch, wenn man so will: ein Kind der achtziger Jahre, dem ersten klimabewegten Jahrzehnt, ein Kind, das Angst vor der Atomkraft genauso hat wie es um Wald und Klima besorgt ist. Auch daher bezieht er den Stoff für seine Romane, von „Wenn das Schlachten vorbei ist“ über „Hart auf Hart“ bis zu „Terranauten“.
Mit „Blue Skies“, benannt nach einem Song von Ella Fitzgerald, bewegt sich T. C. Boyle nun abermals auf diesem Terrain, mitten in unserer vom Klimawandel betroffenen Gegenwart. Angesiedelt ist der Roman an zwei Schauplätzen. Zum einen in Kalifornien, wo die Sonne immer scheint, der Himmel immer blau ist, das Leben immer leicht zu sein scheint, und wo nicht zuletzt T.C. Boyle selbst mit seiner Frau lebt. Wie singt es Ella Fitzgerald: „Never saw the sun shining so bright, never saw things going so right.“
Nur sind das Licht, die immer unerträglicher werdende Hitze, die Bläue und der Wassermangel bei Boyle jetzt Ausdruck des Klimawandels, genau wie in Florida, dem zweiten Zentrum des Romans. Hier steigen die Wasserpegel, hier gibt es jetzt auch außerhalb der Hurrican-Saison stärkste Winde, hier sieht man vor lauter Wolken und Regen wochenlang keine Sonne mehr. Die Apokalypse ist in „Blue Skies“ jetzt, von einer Dystopie kann nicht die Rede sein. Einige von Boyles Figuren haben denn auch ein geschärftes Bewusstsein für die Fragilität des Planeten und versuchen sich zu arrangieren.
Ottilie, eine von drei Hauptfiguren dieses Romans, hat beschlossen, statt Fleisch nur noch Insekten zu essen, unter anderem weil ihr Sohn Cooper Entomologe ist und ihr immer wieder das Sterben des Planeten vor Augen führt: „Ja, sie sah es. Und sie fühlte sich schuldig für den Anteil, den sie daran hatte. In westlichen Industriegesellschaften verbrauchte jeder Mensch fünfunddreißigmal mehr Ressourcen als der durchschnittliche Inder oder Afrikaner, doch was konnte sie schon tun, außer ihre Kreditkarten zu zerschneiden und alles, was ins Haus kam, bis auf den letzten Rest zu recyceln?“
Ottilie will dabei auch ihren Mann Frank überzeugen, einen Arzt, der mitten im kalifornischen Leben steht; was bei Coopers Freundin Mari nicht mehr nötig erscheint: Auch sie ist Wissenschaftlerin, Acarologin, ihr Fachgebiet sind Zecken.
Auf der anderen Seite der Staaten wiederum im tiefsten Florida lebt Catherine, Ottilies Tochter, zusammen mit ihrem zukünftigen Mann Todd in einem auf Pfählen stehenden Strandhaus. Catherine und Todd sind von einem anderen Kaliber als Cooper und Mari: Er ist Eventmanager der Rum-Marke Bacardi, sie liebäugelt mit einer Zukunft als Influencerin. Insofern erscheint es ihr opportun und als vorteilhaftes Alleinstellungsmerkmal, sich eine Tigerpython zuzulegen. Der Roman setzt damit ein, wie sie eine Schlange kauft und dann erstmal ein, zwei Cocktails trinken geht. Als sie später eine zweite, viel größere Tigerpython erwirbt, weil die erste scheinbar stiften gegangen ist, setzt das eine Kette unglückseliger Ereignisse in Gang.
Hochwasser in Florida
Boyle erzählt im steten perspektivischen Wechsel, wie es seinen drei Hauptfiguren Ottilie und ihren beiden Kindern Cooper und Catherine ergeht. Man kennt dieses Erzählprinzip von ihm, große formale Experimente sind seine Sache noch nie gewesen. Was nicht zuletzt seinen Erfolg ausmacht. Tatsächlich ist gerade die erste Hälfte dieses Romans unwahrscheinlich rasant. Boyle versteht es nämlich zum einen aufs Beste, den harmlos-schnöden Alltag seiner Figuren nach und nach mit den klimatischen Veränderungen zu vermischen. Letztere werden als solche von seinen Figuren zunächst kaum wahrgenommen, man gewöhnt sich schließlich an alles.
Climate Fiction ist das nicht
Zum anderen baut er überall katastrophische Spannungselemente ein, die mit dem Klimakollaps nichts zu tun haben. Das beginnt mit der großen Tigerpython, die die wieder aufgetauchte kleine frisst, setzt sich fort mit dem Zeckenbiss Coopers, in Folge dessen dieser seinen rechten Unterarm verliert, und erreicht den dramaturgischen Höhepunkt, als sich die Tigerpython schließlich an einer der gerade geborenen Zwillingstöchter von Catherine vergeht und sie erdrosselt.
Man fühlt sich also bestens unterhalten, und dass Hochzeiten, Familienfeiern und Beerdigungen von Feuern und Wirbelstürmen beeinflusst werden oder Catherine täglich Bootstouren unternehmen muss, um ihre verbliebene Tochter zur Schule zu bringen, gehört dann schon zum Alltag in Kalifornien und Florida.
Nun mag es inzwischen mit der Climate Fiction ein eigenes literarisches Genre geben, also auch die Möglichkeit, gar stilistisch auf die neuen Verhältnisse zu reagieren. Das aber schert T. C. Boyle wenig. Will man ihm das vorwerfen? Erwartet man von ihm eine literarisch avancierte Antwort auf den Klimawandel? Nein.
Denn dafür schmiegt er sich viel zu gut in das all american life seiner Figuren, dafür kennt er sich viel zu gut aus auf den popkulturellen Oberflächen, bisweilen sogar darunter, dafür ist er ein Meister darin, den amerikanischen Traum immer an der Grenze zum Alptraum darzustellen.
Auf den Trümmern das Paradies
Mit Cooper als Figur kann Boyle nach dessen Amputation allerdings nicht mehr allzu viel anfangen, außer dass diesem mit seinem Unterarm nicht nur das Karriere-, sondern mithin das gesteigerte Umweltbewusstsein verloren gegangen ist. Dagegen bekommen Ottilie und Catherine schärfere Konturen, insbesondere die dem Alkohol eifrig zusprechende Catherine. Überhaupt der Alkohol: Getrunken wird in Boyles Romanen grundsätzlich gern, so viel wie hier allerdings noch nie. Nur erscheint das alles andere als ein Problem. Hurra, diese Welt geht unter. Und auf den Trümmern das Paradies. Und darauf einen Bacardi.
Die Spannungskurve fällt im zweiten Romanteil ab, ohne dass man sich von Boyle weniger gern durch die Kapitel führen lassen würde. So wie Ottilie weiß, dass die eine Hälfte der Welt unter Wasser steht, die andere ausgedörrt ist, so hat Boyle eine moralische Sendung. Nichts bleibt, wie es war, nicht ökologisch und deshalb auch nicht sozial und kulturell. Selbst die Liebe ist nicht mehr das, was sie einmal war.
Doch wollen alle immer so weitermachen, beispielsweise Ottilie, die eine Party für ihren in den Ruhestand gehenden Mann ausrichten möchte. Aber auch T.C. Boyle will weiterhin Spaß haben, ein Glück für sein großes Publikum!, und zeigt sich mit „Blue Skies“ auf der Höhe seiner ihm eigenen Kunst.