Im Tal der Trauer
Um das Gefühl der Panik zu visualisieren, findet der Zeichner ungewöhnliche Lösungen: Schlingpflanzenähnliche Tentakel greifen nach der Frauenfigur, ziehen sie vom Fahrrad herunter. Ein paar Seiten später heißt es: „Aber erst vor dem Spiegel kommt die kurze Gewissheit über meine Lippen. Ich habe keinen Vater mehr, sage ich mir entgegen. Und bin verstört wie am ersten Tag“. Die Sätze stammen von der Schwester des Zeichners und sind ebenso eindringlich wie dessen Bilder.
Die Graphic Novel „Fürchtetal“ (Rotopol, 116 S., 24 €) handelt von der Depression und dem Suizid des Vaters der Geschwister Christine und Markus Färber, die in Oberfranken aufwuchsen und heute beide in Leipzig leben. Während Markus Färber Illustrator und Comiczeichner ist (sein Debüt „Reprobus“ erschien 2012), arbeitet seine Schwester als Autorin und Journalistin.
Vor rund zwei Jahren nahm sich ihr Vater, der Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbrachte, unerwartet das Leben. Eine Korrespondenz über Messengerdienste begann zwischen den Geschwistern: Christine versuchte, für ihre Trauer Worte zu finden, die von zärtlichen Kindheitserinnerungen bis hin zu persönlicher Fassungslosigkeit, körperlichen Beschwerden und tiefen Ängsten reichen. Der Bruder antwortete darauf mit Comicsequenzen.
Ergebnis dieses Dialogs ist das vorliegende Buch, ein beeindruckendes Stück Trauerarbeit und zugleich ein präzises Dokument dafür, wie Gefühls- und Gedankenwelten über Menschen hereinbrechen, wenn ein nahestehender Mensch stirbt. Markus Färber überrascht auf fast jeder Seite mit Bildern von surrealer, traum-ähnlicher Qualität, um seinen Vater und dessen von Ängsten geprägte innere Welt darzustellen, aber auch den Umgang der Geschwister mit dessen verzweifelter Tat.
Der Frankenwald nimmt als Schauplatz eine Schlüsselrolle ein, da die Familie dort oft wandern ging und schöne Momente erlebte. Doch nach dem Suizid bekommen „der Wald“, das „Fürchtetal“ und dessen Wege eine neue, unheilvolle Bedeutung. In der Klinik spricht der Vater von einer „Rechenmaschine“, die es im Wald zu suchen gelte. Die Geschichte wird märchenhaft, die Geschwister suchen nach der dämonischen Maschine und finden doch nur weitere Rätsel.
Eine allgemeingültige Geschichte, die jeden angeht
So nimmt „Fürchtetal“ geradezu phantastische Züge an, erinnert motivisch an die Literatur und Kunst der deutschen Romantik, verliert jedoch nie die Bodenhaftung. Mancher Hintergrund hätte vielleicht in einem kurzen Nachwort erwähnt werden können, damit allzu kryptische Details etwas erhellt werden.
So war, wie der Zeichner in einem Gespräch verrät, der Vater Finanzbeamter, was einen Bezug zur Rechenmaschine herstellt; der gegen Ende des Buches auftauchende Schuppen war wiederum der Ort des Suizids. Doch wird auch ohne dieses Wissen für jeden Leser und jede Leserin klar, dass hier eine allgemeingültige Geschichte erzählt wird, die jeden angeht.
[Wie jedes Jahr fragt die Tagesspiegel-Comicredaktion jetzt wieder: Welches waren für Sie die besten Comics des Jahres? Hier gibt es eine erste Auswahl der Leser-Favoriten.]
Im Gegensatz zu seinem schon beeindruckenden Erstlingswerk „Reprobus“, das er mit Acrylfarben malte, zeichnet Färber diesmal ganz klassisch mit Pinsel und Tusche, seine Figuren sind zeichenhaft, aufs Äußerste stilisiert, und doch klar erkennbar. Der Vater erscheint meist als übergroßer, vom Körper abgetrennter Kopf – denn sein Körper spielte keine Rolle mehr, als der innere Wahn überhand nahm.
Eine kunstvoll gestaltete und in dichter, poetischer Sprache verfasste grafische Erzählung, die ihre Leser in einen dunklen Sog hineinzieht. Trotz des düsteren Themas stellt sich bei der Lektüre kein depressives Gefühl ein – vielmehr möchte man das tief berührende Buch anschließend gleich nochmal lesen, um manchem Rätsel auf die Schliche zu kommen.