Sir Simon Rattle zum 70.: Meister der Freundlichkeit

Vielleicht ist es das, was Simon Rattle der Musikwelt vor allem geschenkt hat: die Freundlichkeit, das Zugewandte. Vielleicht wurde ihm auch dafür vor wenigen Tagen der Ernst von Siemens Musikpreis zugesprochen, der Nobelpreis der Klassischen Musik. In jedem Fall gehört er in diesen Tagen gefeiert.

Denn am 19. Januar wird er 70, der Brite mit der inzwischen auch deutschen Staatsbürgerschaft, der 16 Jahre lang die Berliner Philharmoniker leitete, von 2002 bis 2018. Bis heute lebt Rattle mit seiner Ehefrau, der Mezzosopranistin Magdalena Kožená, und der Familie in Berlin, nach einigen Jahren beim London Symphony Orchestra pendelt er nun als Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters mit der Bahn zwischen dem Schlachtensee und München. In der Berliner Philharmonie hat er zuletzt wieder seinen geliebten Mahler dirigiert, die 6. Symphonie, die mit den Hammerschlägen. Und er gab ein Konzert mit der Karajan-Akademie, beides beim Musikfest im September.

Typisch Rattle: die Hingabe zum Nachwuchs und die Unerbittlichkeit der Mahlerschen Märsche, verwegene Zukunftsvision und unbestechlicher Gegenwartssinn. Für beides hat der gebürtige Liverpooler – Selbstbezeichnung „Liverpoodle“ wegen des Lockenschopfs – sich immer engagiert, seit er in den 1980ern und 1990ern das Birmingham Symphony Orchestra leitete. Schon da fing er an, mit jungen Leuten zu arbeiten.

Seine größte Pioniertat, sein größter Verdienst: Als Vorreiter der Nachwuchsförderung, des modernen Marketing und der niedrigschwelligen, publikumsnahen Angebote, die nicht mehr wegzudenken sind aus dem Klassikbetrieb, kann Rattle gar nicht genug gewürdigt werden.

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Die „Education“-Programme,„Rhythm Is It!“– Strawinskys „Sacre“ mit Teenagern –, die Lunchkonzerte, die Digital Concert Hall: Auch aus seiner Philharmoniker-Zeit ist das unvergesslich. Übrigens startete ein gewisser Dieter Kosslick fast zeitgleich bei den Berliner Filmfestspielen seine Charme-Offensie, gleich gegenüber der Philharmonie im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz. Rattle und Kosslick, beide haben die Kulturstadt Berlin als mitreißende Kommunikatoren geprägt.

Und musikalisch? Rattle ringt unermüdlich um Farbigkeit, rhythmische Prägnanz, Klangvielfalt und Sinnlichkeit, schließlich hat er an der Royal Academy of Music auch Schlagzeug studiert. Er behalte stets das Wesentliche im Blick, so Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrem Geburtstagsgruß: „die Emotion und die Geschichte, die in jeder Note stecken“.

Dass Rattle die Klassik nahbar machte und Konventionen über Bord warf, hat ihm jedoch nicht nur Freunde eingebracht. Unter den Philharmonikern soll es welche gegeben haben, die sich bis zum Schluss nicht auf ihn einlassen wollten. Was aber nichts daran änderte, dass Sir Simon das Spitzenensemble überwiegend für sich einnahm, erst recht das hiesige Publikum. Seine unermüdliche, wenn auch nicht immer überzeugende Befragung der Klassiker, Beethoven, Mahler, Mozart, Sibelius und Wagner, seine Entgrenzung des Repertoires hin zur zeitgenössischen Musik kam gut an. Nicht zuletzt seine britischen Landsleute hat er den Berlinern nahegebracht, Thomas Adès zum Beispiel, den er gleich bei seinem Einstandskonzert 2002 aufs Programm setzte.

Anschließend, beim Scherzo von Mahlers Fünfter, holte Rattle den Solohornisten Stefan Dohr nach vorne neben das Pult, wegen der vielen Solopassagen für das Instrument. Ein Klangexperiment, ein Signal: Warum soll man sich im Konzert immer an die Konventionen halten? Letztes Jahr im Mai stand Dohr übrigens wieder vorne neben dem Dirigenten und trötete „Kuckuck“, bei der Uraufführung von Jörg Widmanns vergnüglichem Horn-Konzert.

Als Dirigent strebt Rattle weniger die philosophische Durchdringung des Symphonischen an als die Symbiose des Irdischen mit dem Überirdischen: Klassik als Analyse der Gegenwart wie als Möglichkeit, sie zu ertragen, Zweifel, Irrtümer und Humor inklusive. Nicht nur dem Berliner Konzertpublikum hat er auf diese Weise die Angst ausgetrieben, die Angst vor dem Entertainment, dem Sentiment, der Nähe zum Kitsch. Bei seinem Kehraus-Konzert im Juni 2018 in der Waldbühne spannte er den Bogen entsprechend weit, von Monteverdi bis Paul Lincke, von Lamento bis Tschingderassabum.

In diesem Sinne: ein Trommelwirbel zum Geburtstag an diesem Sonntag. Freuen wir uns auf Sir Simons nächsten Gastauftritt in seiner Wahlheimat Berlin.