„Auf der Kippe“ im Kino: Strukturwandel in der Lausitz
Gigantische Baggerschaufeln graben sich in einem DDR-Werbefilm aus den 1970er Jahren in die Erde, als gelte es gut 20 Jahre nach Gründung doch noch den Sozialismus zu entdecken. Luftaufnahmen zeigen neu errichtete Häuserblöcke, die Kamera schwenkt, als wäre sie selbst vom Enthusiasmus des Films erfasst worden. In der Gegenwart führt Torsten Pötzsch, Bürgermeister der nordsächsischen Kreisstadt Weißwasser, eine Gruppe südkoreanischer Besucher:innen geduldig durch die letzten verbliebenen Bauten der stillgelegten, örtlichen Glasfabrik.
Zuvor im Büro hat Pötzsch noch die Geschichte des Ortes skizziert: Aufschwung ab den 1970er Jahren, Wende, Abwanderung, nun durch den Ausstieg aus der fossilen Energie der Strukturwandel. „Wir müssen in diesem Prozess des zweiten Strukturbruchs auch das aufarbeiten, was in den 1990er und 2000er Jahren hier passiert ist, dass die Leute eben keine Perspektiven hatten, keine Zukunft hatten und dass der Staat nicht reagiert hat.“
Was Pötzsch da sagt, umreißt auch das Programm von Britt Beyers Dokumentarfilm „Auf der Kippe“. Die Gegenwart lässt sich nur mit dem Wissen um die Ereignisse verstehen, die die Region nach dem Fall der Mauer überrollt haben. „Auf der Kippe“ zeigt die mühselige Arbeit für einen gelingenden Strukturwandel in der Lausitz und das Ringen um die Frage, wie dieser aussehen könnte.
Konzerne fräsen sich in die Landschaft
Suchend läuft Rebekka Schwarzbach von der Umweltgruppe Cottbus zwischen Bäumen hin und her, findet schließlich, was sie gesucht hat und zeigt auf ihrem Laptop Aufnahmen eines Weißhirsches. Der Wald soll enteignet und abgeholzt werden, damit der Energieversorger LEAG sich, kurz vor bevor er mit anderthalb Milliarden Bundesmitteln abgefunden wird, noch weiter in die Landschaft fräsen kann. Die Initiative zum Erhalt der deutschen Bergbaureviere wiederum, in der sich Angestellte der Bergbaubetriebe zusammengefunden haben, blickt mit Sorge auf das Aus für den Braunkohleabbau.
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Die Bewohner:innen der Region, die Angst haben vor dem Verlust des Bergbaus und jene, die das Ende des Braunkohleabbaus für überfällig halten und nun von der Natur retten wollen, was noch zu retten ist, bilden zwei Ebenen von Beyers Film. Die dritte ist die regionale Politik, die um die Verteilung der Fördermittel aus dem Strukturfonds ringt und um Projekte, die die Zukunft einer Region sichern oder gar wiederherstellen sollen.
Ein Film unter Ostdeutschen
„Auf der Kippe“ ist ein nüchterner Film, ebenso kino- wie fernsehtauglich, wobei die Totalen der flachen Landschaft auf der Leinwand imposanter wirken. Unterlegt sind die Bilder mit acht Stücken der Brüder Rolf und Joachim Kühn, deren Sound geprägt ist von der Klarinette des im vergangenen Sommer verstorbenen Rolf Kühn. Sie liegt immer wieder wie fragend über den Einstellungen. Das Zentrum aber sind die Gespräche und Aktivitäten der Bewohner:innen.
„Auf der Kippe“ ist ein Film unter Ostdeutschen. Alle im Film wissen um das „Wendetrauma“, wie Schwarzbach das treffend nennt, und die folgenden Verwerfungen. Bürgermeister Pötzsch fasst das beim Besuch der ehemaligen Glasfabrik ernüchtert zusammen: Sein früherer Kindergarten sei nicht mehr da, die Schule nicht und auch nicht die Fabrik, in der er einst arbeitete. Später führt er Marco Wanderlitz, den Ostbeauftragten der Bundesregierung, durch eine Halle der ehemaligen Fabrik, die zum Veranstaltungssaal umfunktioniert wurde.
Wenn alles gut läuft, soll sie zum Kern eines neuen Stadtteils werden, der junge Menschen, Bildung, Jobs in die Stadt bringt. Es gibt Planungstreffen mit einem möglichen Investoren, der lacht, als Pötzsch statt eines Kaffees lieber einen Kakao will. Strukturwandel ist harte Arbeit. Britt Beyers „Auf der Kippe“ zeigt die Ängste, Hoffnungen und Unsicherheiten auf dem Weg in eine Lausitz ohne Braunkohleabbau.