Mailänder Scala: Saisoneröffnung auf Russisch
Sollte man „Boris Godunow“ heute noch aufführen? Was für eine Frage – unbedingt sogar! Schließlich schildert Modest Mussorgski in seiner 1874 uraufgeführten, einzigen vollendeten Oper Zwangsherrschaft, Bespitzelung, Paranoia der Mächtigen und Manipulationen des Volkes. Von einer „Propaganda für Putin“ wie sie der ukrainische Präsident Selenski der Mailänder Scala anlastet, kann also mithin nicht die Rede sein.
Zum Glück ließ sich Dominique Meyer, Intendant des berühmten Opernhauses, von den Anschuldigungen nicht einschüchtern. Hinter Puschkin, auf dessen gleichnamigem Drama die Oper basiert, müsse er sich nicht verstecken, hielt er richtig dagegen. Und auch für Musikdirektor Riccardo Chailly ist „Boris Godunow“ eine Herzenssache. Als 1979 Claudio Abbado erstmals mit diesem Werk eine Saison an der Scala eröffnete, war Chailly dessen Assistent. Die Aufführung mit dem unvergesslichen Nicolai Ghiaurov in der Titelpartie war die erste in russischer Sprache am berühmtesten italienischen Opernhaus.
Auch Staatspräsident Mattarella ist im Publikum
In der jüngsten „Serata inaugurale“ am 7. Dezember, dem Tag des Stadtheiligen Ambrosius, ließ Chailly nun auf die italienische Nationalhymne, die traditionell den Auftakt bei dem musikalischen Großereignis bildet, noch die Europahymne folgen. Das passte zum großem Jubel, mit dem zuvor das Publikum den italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella und die beiden Frauen begrüßte, die sich neben ihm in der Königsloge präsentierten: EU-Präsidentin Ursula von der Leyen und die neue italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Die üblichen Skandale um die Scala-Eröffnung herum blieben gleichwohl nicht aus: Ferngehalten von der Polizei, hatten draußen Gruppen gegen die stark gestiegenen Energiepreise und die neue Regierung in Rom protestiert. Am Vormittag wurde das Opernhaus von Klimaaktivisten mit Farbe beschmiert.
Die Inszenierung von Kaspar Holten krankt ein einer streckenweise recht steifen, statischen Personenführung. Zwar geistert jener Dmitri, den Titelheld Boris als rechtmäßigen Thronfolger ermorden ließ, um sich selbst an die Macht zu putschen, wie ein Außerirdischer im blutigen Gewand durch die Szene – als Boris‘ personifiziertes schlechtes Gewissen. Aber das allein bewirkt noch kein Schaudern.
Die Inzsenierung hat vor allem optischen Schauwert
Die Produktion lebt vielmehr von seinen optischen Schauwerten, den ästhetisch ansprechenden Bühnenbildern von Es Devlin und den farbreichen Kostümen von Ida Marie Ellekide. Ein surreal anmutendes Gebirge aus Landkartenteilen des russischen Reichs umrankt die Bühne. Erst nach und nach begreift man: Es sind Teile aus den Annalen des Mönchs Pimen, der die frühe russische Geschichte aus dem 16. Jahrhundert dokumentiert.
Diese starke bildliche Anbindung an Pimens Chronik wird unterstützt durch Videos. Sie werden auf einem Monolithen in Zentrum der Bühne projiziert, der sich zur Krönung des Zaren eindrucksvoll zum Palast erweitert. Von 1584 bis 1598 hat der reale Boris Godunow Russland anstelle des geistig zurückgebliebenen Zarensohnes Fjodor I. regiert.
Riccardo Chailly dirigiert nur solide
Gegeben wird in der Scala die Urfassung der Oper. Die Konzentration liegt also ganz und gar auf der Tragödie von Aufstieg und Fall des Protagonisten. Wenn ihn, beunruhigt Nachrichten aus Litauen, zusehends Zweifel an dem Tod des von ihm beseitigten Kindes überkommen, ist Ildar Abdrazakov – eben noch im historischen Ornat mit goldener Krone – zu einer heutigen Figur geworden. Der russische Bass ist das Glanzlicht des Abends, groß bei Stimme und nuanciert in seinem Erleben von Furcht, Schuld und dem Wahnsinn, an dem er zugrunde geht, wenngleich dieses Rollenporträt doch skizzenhaft bleibt.
Dies auch deshalb, weil sich Riccardo Chailly nicht in die tiefsten Gründe der Musik begibt. Mit sicherer Hand und solide führt er Chor und Orchester der Mailänder Scala durch die Partitur. Aber über sublime Details bei Klangfarben und Dynamik, an denen sich das Gespenstische entzündet, dirigiert Chailly unempfindlich hinweg. Nicht einmal wird die Musik an diesem Abend knisternd leise oder fahl, nicht bei den unheilvollen Pizzikati in den tiefen Streichern, nicht in den Tremoli der tiefen Streicher, dem Grummeln der Kontrabässe.
Gesungen wird rundum vorzüglich, vor allem die Bässe Ain Anger und Stanislav Trofimov in den Rollen der alten, knorrigen Mönche Pimen und Varlaam nehmen mit stimmigen Rollenporträts für sich ein. Allen voran aber der von Alberto Malazzi perfekt einstudierte Chor als das leidende, hungrige Volk bescherte dem Abend mit seinem Flehen um sein Brot einen dramatischen Höhepunkt. Von wegen die Oper sende eine falsche Botschaft: In einem solchen Moment ist die reale Situation der Menschen in der Ukraine zum Greifen nahe.
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