Ideengeschichte: Habbo Knoch über den Begriff der Menschenwürde

Es sind nur sechs Wörter, doch sie haben großes Gewicht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Neben der Nationalhymne ist es dieser Satz, den die Deutschen schnell auf den Lippen haben, wenn sie sich des Selbstverständnisses ihrer politischen Kultur versichern wollen. Und das wohl auch deshalb, weil das Wort Würde allerlei Interpretationen zulässt.

Habbo Knoch, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln, vollzieht in seinem neuen Buch nach, wie sich der Begriff im Recht, in öffentlichen Debatten und in der politischen Rhetorik wandelte. Der Titel „Im Namen der Würde“ verweist bereits auf all die humanitären, konservativen, liberalen, christlichen und linken Positionen, die sich bis heute auf die Würde berufen. Sie alle referieren explizit oder implizit auf historisch gewachsene Definitionen, die Knoch zu Beginn referiert.

Zu nennen sind die Autoritäts- und Charakterwürde, die jeweils nur solchen Personen zugestanden wurden, die über einen spezifischen sozialen Status beziehungsweise ein hinreichendes Maß an Kultiviertheit verfügten. Oder die konditionale Würde, ein Potenzial, das in jedem Menschen angelegt sei, doch von diesem erst verwirklicht werden müsse. Dem steht die universale Würde entgegen, die in der Charta der Vereinten Nationen 1945 erstmals rechtlichen Status erreichte. Sie ist jedem Menschen qua seiner Menschlichkeit inhärent und damit eine Art erster Wert, der dem Völkerrecht vorausgeht und dieses überhaupt erst begründet.

Auch die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes folgten 1949 diesem Gedanken, was keineswegs selbstverständlich war. Viele Juristen vertraten die Haltung, dass das Recht keine außerhalb ihrer selbst liegende Legitimation benötige. Diesem Rechtspositivismus standen naturrechtliche und christliche Positionen entgegen. Mit der Würde wurde letztlich zwar kein eindeutiger Gottesbezug formuliert, doch weist sie auf eine starke, religiös geprägte Fraktion im Parlamentarischen Rat hin.

Eine Art Letztbegründung

Verstanden als Letztbegründung des Grundgesetzes gab die Würde damit auch einen Auftrag, sie selbst immer weiter zu gestalten und mit Inhalten zu erfüllen. Denn wenn man, bar einer allgemein anerkannten Definition, nicht wissen konnte, was sie war, so musste man sie mit dem eigenen Glauben füllen.

In den Fünfzigerjahren wurde sie zunächst als christlich begründetes Abwehrrecht verstanden, das den Einzelnen vor unberechtigtem Zugriff des Staates schützen sollte. Was wie eine Lehre aus dem Nationalsozialismus klingt, war jedoch in der politischen Praxis vor allem gegen die Gefahr im Osten gerichtet. Konrad Adenauer, der mit seiner eigenen Macht im Inland durchaus nicht zimperlich umging, brachte die Formel „Freiheit und Menschenwürde“ immer wieder gegen die DDR in Stellung. Mit Verweis auf deren restriktive Politik ließen sich Projekte wie die Wiederbewaffnung leichter durchsetzen. Die Frage, ob die Freiheit nicht gerade durch die Wehrpflicht gefährdet sein könnte, rückte derweil vorerst in den Hintergrund.

Autonomie des Einzelnen

Erst später dominierte mit der „Objektformel“ eine Interpretation, die stärker auf die Autonomie des Einzelnen abhob. Die Würde leitete sich nun nicht mehr aus einer gattungsbezogenen Singularität ab, sondern aus der Fähigkeit des Einzelnen, sein Leben frei zu gestalten. Dieser Selbstentwurf dürfe nicht grundlos behindert werden. Als eine dritte Interpretation, die bis heute vorherrschend sei, beschreibt Knoch ein Verständnis der Würde, das erst im gesellschaftlichen Zusammenhang zu sich komme. Zugrunde liege dem eine Anerkennung der Verletzbarkeit des anderen, mithin die Notwendigkeit seine Würde zu wahren, eben weil sie stets prekär ist.

Die jeweiligen Deutungen wirkten sich auf Gesetzgebung und Rechtsprechung aus, die beständige Arbeit am Begriff trieb somit die gesellschaftliche und politische Entwicklung voran. Zugleich waren die neuen Akzentuierungen Reaktionen auf öffentliche Debatten, die der Autor in seinem Buch rekapituliert. „Im Namen der Würde“ lässt sich auch als kleine Geschichte der Bundesrepublik lesen: von der Westbindung über den Radikalenerlass und das Abtreibungsverbot zur RAF, von Aids zur Gentechnik, vom Asyl-Kompromiss bis zu den jüngsten Gewalttaten Rechtsradikaler.

Mitunter ächzt das Buch unter seiner Materialfülle, vor allem die Fünfziger- und Sechzigerjahre werden überausführlich behandelt. Um den Überblick zu bewahren, empfiehlt es sich, zunächst das konzise Schlusskapitel zu lesen, in dem Knoch zudem die Würde-Formel gegen ihre Kritiker als großen Schatz verteidigt. Folgt man ihm, erweist sich die Offenheit und Widersprüchlichkeit nicht als Makel, sondern als große Qualität. Gerade ihre Unbestimmtheit fordert dazu auf, die Würde im Modus politischer Auseinandersetzung immer wieder neu zu entwerfen, zu verteidigen und damit einhergehend die Demokratie lebendig zu halten.