Gebrauchsanweisung für Neukölln: Eine Welt für sich, eine Welt für dich

Die Behauptung, Neukölln sei inzwischen auserzählt, schreibt sich schnell mal so hin; genauer betrachtet, ist es eine grob fahrlässige Untertreibung. Von den Stichworten „Rütli Schule“ und „4 Blocks“ über die Verteilungskämpfe um das Tempelhofer Feld bis zum Sehnsuchtsort der internationalen Easyjet-Jugend ist der Bezirk jenseits des Landwehrkanals (aus der gesicherten Perspektive der gefühlten Mitte Berlins) schon einige Metamorphosen durchlaufen. Seinen Platz im Tourismus-Marketing der Spree-Metropole – Fine-Dining-Restaurants hin, Silvesterrandale her – hat er sich redlich verdient.

Erzähle da heute mal jemand den spät Zugezogenen, dass es eine Zeit gab, als man sich für eine Adresse im alten Postbezirk 44 (vor der Reform von 1993) gegenüber Eingeborenen schämen musste. Als es den Studenten Johannes Groschupf 1982 im Alter von 18 Jahren aus der westdeutschen Provinz nach Neukölln verschlug, war das Misstrauen allerdings einvernehmlich.

Die Straßen von Neukölln, eine lebenspraktische Schule

Die Schöne- und Kreuzberger, so erinnert sich der Krimi-Autor und ehemalige Tagesspiegel-Reporter im Nachwort der Neuauflage seines Buches „Gebrauchsanweisung für Neukölln“, reagierten bestürzt. Und der Hausmeister seiner Mietwohnung in der Fuldastraße/Ecke Sonnenallee (zwei Zimmer, Kohleheizung, Außentoilette, 94 Euro Miete) schüttelte über das studierte Beamtensöhnchen nur den Kopf. Groschupf hatte den FU-Hörsaal auch schnell gegen eine lebenspraktischere Schule eingetauscht: die Straßen von Neukölln.

Seine Publikation „Gebrauchsanweisung für Neukölln“, 1987 zunächst in 50er-Auflage produziert, war im Grunde nicht mehr als ein Fanzine aus im Copyshot gehefteten, wild collagierten Seiten, wie man es damals noch aus der Punkszene kannte: Klebstoff, Nagelschere, Schreibmaschine.

Und zu gleichen Teilen Ehrrettung (was dann weitere 25 Jahre dauern sollte), Liebeserklärung (was Groschupf niemand dankte, am allerwenigsten die Stadtteilbewohner) und Personality-Magazin (lange vor „Barbara“ und „Guido“). Da Groschupf das Pseudonym Olga O’Groschen benutzte, erhielt die „Reporterin“ auch mitunter sexistische Kommentare. Erst nach einer dreiteiligen Serie in der „taz“ mit Auszügen aus dem Handbuch stieg das Interesse an seiner „Gebrauchsanweisung für Neukölln“.

1987 war die Mauerstadt außerhalb der Zonengrenze durch Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ und die Absturz-Geschichten aus den legendären Kreuzberger Heroinbars mythifiziert. Bei Olga O’Groschen hieß es dagegen in schönster Stadtmagazinprosa: „Hell scheint die Sonne auf Neukölln. Es ist eine Welt für sich. Eine Welt für dich. Die Neuköllner nehmen dich mit offenen Armen in ihren Reihen auf, du wirst hier ansässig zwischen Paderborner-sixpacks (sic) Käsestullen Opelfahrern Hinterhofmetzeleien.“

Ganz offensichtlich war Groschupf vom Kippenbergerschen Dada-Punk der frühen Achtziger inspiriert, seine Reportagen aus dem Kiez atmeten aber auch den Geist des „Gonzo-Journalisten“ Hunter S. Thompson.

Johannes Groschupf ist heute ein erfolgreicher Autor von Berlin-Krimis.
Johannes Groschupf ist heute ein erfolgreicher Autor von Berlin-Krimis.
© Mike Auerbach

Groschupf dokumentierte die Straßen von Neukölln, Kinder-Kritzeleien auf Kaugummiautomaten, Werbebroschüren, Illustrierte, „die Weisheiten in der Kneipe am Nebentisch“, in der Schlager liefen, wie er im Nachwort der „Gebrauchsanweisung“ schreibt. Szenen wie damals aus dem Berliner „Tatort“ mit Volker Brandt. Oder er hing in Undergroundkinos herum, guckte Zombiefilme und John Waters – und machte gelegentlich rüber in den Ostteil, auf den Spuren der klandestinen Literatenszene im Prenzlauer Berg.

All diese Einflüsse finden sich nun wieder in dem wirklich schönen, gebundenen Faksimile der „Gebrauchsanweisung“, die gerade im Berliner Hirnkost Verlag (dem ehemaligen Archiv der Jugendkulturen) als großformatiger Nachdruck erschienen ist – ergänzt um ein Nachwort und zahlreiche zum Teil brüllend komische zeitgenössische Kritiken.

Rückblickend könnte man Olga O’Groschens Neukölln-Klassiker fast schon als allerfrüheste Vorhut der Gentrifizierungsbewegung lesen, manche Alltagsbeobachtung hat sich sogar im gegenwärtigen Straßenbild verewigt. Nur das Urteil von damals klingt etwas harsch: „Unter dieser rauen Schale entfaltet sich das Privatleben der Neuköllner in beispielloser Widerwärtigkeit.“ 35 Jahre später liest sich die herzliche Hassliebe mit dem „Problembezirk“ diplomatischer, Stadtmarketing-tauglicher. Heute würde man den damals 24-jährigen Johannes Groschupf einfach einen Hipster nennen.