TV-Doku über die Karriere eines KZ-Täters: Kecke Hütchen und Totenkopf-Mützen

Selbst KZ-Massenmörder wurden nicht als Verbrecher an der Menschlichkeit geboren. Auch die Zehntausende, ohne die das KZ-System der Nationalsozialisten nicht hätte betrieben werden können, hatten eine Vergangenheit, die vor der NS-Herrschaft begann. „Wer sind sie? Wie wurden sie zu Tätern?“, fragt die ARD-Dokumentation „Karriere im KZ – Vorm Bauernsohn zum NS-Verbrecher“ von Susann Reich und Jobst Knigge, die gerade in die ARD-Mediathek gestellt wurde.

Die Antworten werden in dem anderthalbstündigen Film, der in Koproduktion von MDR, BR und Spiegel TV entstand, ausgerechnet in einem 80 Jahre alten Foto-Album gefunden.

Als die Amerikaner 1945 das KZ Flossenbürg befreiten, wird der 34-jährige SS-Hauptscharführer Kurt Erich Schreiber interniert. Später gehört er zu den Hauptangeklagten in den US-Prozessen zu NS-Kriegsverbrechen. Er war einer der SS-Männer, die nahezu von Anfang an in den NS-Konzentrationslagern gedient haben.

„Das waren die Experten, auf die man nicht verzichten konnte, weil deren Expertise gebraucht wurde, um das System am Laufen zu halten“, erklärt der Göttinger Historiker Stefan Hördler in der insgesamt sehenswerten TV-Dokumentation, die sich mitunter in ihrer Kleinteiligkeit verliert.

Hördler hat sich auf die Analyse von Täter-Profilen aus Fotografien der NS-Zeit spezialisiert und kann die Gesichter auf den Fotografien den Biografien zuordnen. Er ist es auch, der das Foto-Album mit der goldgeprägten Aufschrift „Erinnerungen“ und den SS-Runen auf dem Einband entdeckt hat. Wenn er das schwarze Album aus dem Schutzkarton holt und behutsam aufklappt, bekommt es die Bedeutung eines historischen Schatzes. Und für einen Historiker mag es auch so sein. Denn so sehr man dem Einband das Alter ansieht, so gut erhalten ist sein Inhalt.

Für einen Historiker ein wahrer Schatz

Laien können damit indes wenig anfangen. Die meisten dort abgebildeten SS-Männer sind in der Öffentlichkeit unbekannt. Hördler erkennt auf den Bildern jedoch die hochrangigen SS-Offiziere, die im KZ-System Karriere machten.

Mehr als die Hälfte der Fotos sind in dem fast vergessenen KZ Lichtenburg in Prettin im heutigen Sachsen-Anhalt entstanden: Es befand sich mitten in der Stadt und wurde zu einer Schule für Gewalt, Folter und Demütigung.

Der Göttinger Historiker Stefan Hördler hat sich auf die Analyse von Täter-Profilen aus Fotografien der NS-Zeit spezialisiert. 

© MDR/Spiegel TV/Thomas Krüge

Allein 16 spätere KZ-Kommandanten haben in der 450 Jahre alten Lichtenburg ihre Karriere begonnen. Die Bilder zeigen, wie aus SS-Hilfspolizisten mit der Zeit KZ-Wächter, NS-Schläger und Massenmörder wurden. Einige von ihnen sollten später in Buchenwald, Auschwitz oder Flossenbürg das Kommando übernehmen. Ihre Verbindungen hielten oftmals über das Kriegsende hinweg.

Kurt Schreiber wuchs in einem Dorf in der Nähe von Leipzig als Sohn eines Bauern auf. Im Alter von 21 Jahren trat er 1932 noch vor der Machtübernahme der Nazis der SS bei. Die Dokumentation folgt Hördler ins Berliner Bundesarchiv, wo Unterlagen Auskunft über den Beginn von Schreibers NS-Karriere geben. Hördler weiß zudem, dass gerade in dieser Zeit gezielt junge Männer für die SS in Sachsen-Anhalt angeworben wurden.

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Auf der einen Seite stehen die Täter, auf der anderen die Opfer. Einer von ihnen ist der Anwalt Hans Litten. 1931 hatte er Adolf Hitler als Zeuge vor Gericht geladen. Seine Nichte Patrizia Litten erzählt in der Doku, wie ihr Onkel den späteren Diktator in Widersprüche verstrickt und damit öffentlich vorgeführt hat. Auch er war in Lichtenburg, bevor er 1938 im KZ Dachau vermutlich in den Tod getrieben wurde.

Oder Ernst Reuter, Anfang der 1930er Jahre Magdeburger Oberbürgermeister. Michael Bienert vom Ernst-Reuter-Archiv in Berlin erklärt, wie es dem Berliner Reuter in Magdeburg gelungen ist, die Sympathien der Bevölkerung zu gewinnen. Den NS-Machthabern war der SPD-Politiker zu beliebt. Bevor er 1935 ins türkische Asyl geht, wird er von den Nazis zweimal im Konzentrationslager inhaftiert und misshandelt, darunter im KZ Lichtenburg.

Gigantische Puzzle-Arbeit und zahllose Archivbesuche

Anhand der Fotos aus dem Album versucht Hördler eine exemplarische SS-Karriere zu beschreiben. Zugleich erhofft er sich Rückschlüsse über das gesamte KZ-System. Für Hördler beginnt eine gigantische Puzzle-Arbeit durch unzählige Archive. Aus kleinen Details wie Abzeichen auf den Uniformen versucht der Historiker Orte und Zeitpunkte von Schreibers Aufstieg im Lagersystem herauszulesen.

Diese Hinweise zeigen zum Beispiel, dass Schreiber später im KZ Buchenwald eingesetzt wurde. In der Anfangszeit der NS-Herrschaft ab 1933 wurden SS-Leute wie er allerdings noch in paramilitärischen Ausbildungsstätten geschult, die als Sportschulen getarnt waren, wie Hördler aus den Bildern schließt. Wenige Monate später war diese Maskerade nicht mehr nötig – nun durften SS-Leute politische Gegner selbst verhaften.

An historischen Fotos und Filmaufnahmen aus dieser Zeit gibt es bekanntlich keinen Mangel, speziell ZDF History füllt damit nach wie vor ganze Thementage auf ZDFinfo. Die Fotos aus Schreibers Album sind anders, genauso wie der Forschungsansatz von Hördler, den die Doku zum Dreh- und Angelpunkt macht.

Fußball, Feiern, Schießübungen, auf 80 Fotos ist Protagonist Schreiber zu sehen, meist umgeben von anderen Männern in SS-Uniformen – manchmal mit keckem Hütchen statt Totenkopf-Mütze. Es ist, wie so treffend von Hannah Arendt beschrieben, auch hier die Banalität des scheinbar normalen Alltags der SS-Täter. Und der doch zusammengenommen mehr zeigt als Momentaufnahmen von Nazi-Verbrechern.