Die Blumen des Bösen in der Sammlung Scharf-Gerstenberg: Schrecklich und schön zugleich
Ein obskures Sträußchen balanciert die junge Frau zwischen den Fingern. Es könnten Wiesenblumen sein, deren Konturen sich in der rauchigen Atmosphäre der Kohle- und Kreidezeichnung (um 1890) von Odilon Redon auflösen. Die ins Viertelprofil gedrehte Schöne atmet tief den Duft ein, legt den Kopf dabei lasziv in den Nacken. Ist sie selbst die „Fleur du Mal“, die böse Blume des Bildtitels? Im Fall einer Redon-Bearbeitung des Österreichers Arnulf Rainer („Ohne Titel“, 1984) gerät der Künstler selbst in Verdacht: Rainer hat den Ausschnitt des weiblichen Kopfs genommen – und die Reproduktion mit Tusche und Ölkreide böse zugerichtet.
„Böse Blumen“: Der Ausstellungstitel ist so catchy wie absurd. Wer wollte Pflanzen moralisch beurteilen? Welche andere Spezies wurde denn aus dem Paradies vertrieben? „Der Titel war fast zu gut“, bekennt Kyllikki Zacharias, Leiterin der Sammlung Scharf-Gerstenberg, die schon vor sechs Jahren über eine Ausstellung um Charles Baudelaires Gedichtband „Les Fleurs du Mal“ nachdachte – und im Projektstadium begeisterte Reaktionen bekam. „Aber die Werkauswahl muss ja mit dem Titel mithalten!“, sagt Zacharias heute.
Es hat sich gelohnt. Nicht zuletzt wegen Otto Pienes „Fleurs du Mal“ (1969), den 13 schwarzen Aufblas-Plastikblumen, die sich in einem Stroboskopgewitter aufrichten und wieder zusammensacken. Eindrucksvoll auch die Baumwollfeld-Installation „The Harvest of Time“ (2023) der kurdischen Künstlerin Fatoş Irwen, die um die Pflanzenköpfchen Haare ihrer Mitgefangenen in einem türkischen Gefängnis gewickelt hat.

© Berlinische Galerie, Dauerleihgabe der Berliner Sparkasse Repro: Kai-Annett Becker/Berlinische Galerie
Die Schau mit rund 120 Kunstwerken, Artefakten und Dokumenten aus der Zeit des 19. bis in unser Jahrhundert lädt zum Streifzug durch den unheimlichen Garten der Moderne. Angefangen mit dem Pariser Baudelaire (1821-1867), der wie kein anderer Dichter vor ihm Zweifel an all den Idealen säte und menschliche Abgründe in den Blick nahm.
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Baudelaire war sehr kunstaffin, aber auch wählerisch; die Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ war nicht illustriert. Seine Sprachbilder wirkten 1857 indes schockierend, die Sammlung wurde wegen „Beleidigung der öffentlichen Moral“ verboten. Eine Illustration als Frontispiz für die bereinigte und zugleich erweiterte Ausgabe von 1861 lehnte Baudelaire als „lächerlich“ ab, erst Félicien Rops schuf für den belgischen „Strandgut“-Band mit den sechs in Frankreich verbotenen Gedichten eine Grafik, die dem Autor gefiel: Neben Rops’ Radierung eines zum Skelett mutierten Baums der Erkenntnis, umgeben von Pflanzen, welche die sieben Todsünden symbolisieren, sind weitere Grafiken ausgestellt.
Vor allem der Symbolist Odilon Redon, der den früh an Syphilis verstorbenen Dichter nicht mehr kennenlernte, war für „Die Blumen des Bösen“ entflammt und beförderte den Nachruhm Baudelaires. Beide waren wichtige Impulsgeber für den Surrealismus, der den Schwerpunkt der Sammlung Scharf-Gerstenberg bildet. René Magrittes „Les Fleurs du Mal“-Siebdruck von 1946 darf natürlich nicht fehlen, ein statuesker Frauenakt mit Rose.
Verteufelte Sexualität: Fernand Léger zeichnete 1931 „Baumstämme“ wie Gruppensexteilnehmer. Inmitten eines flach gepressten Kaktus (2023) aus der Werkstatt von Julius von Bismarck erscheint eine zufällige Vulva, während Paul Klee den Mund der verruchten Pandora (Aquarell von 1920) mit voller Absicht aus senkrecht angeordneten Schamlippen formte.
Neben „Eros und Rausch“ heißt ein Ausstellungskapitel „Depression“, denn Baudelaire war todunglücklich über seine schon sehr durchkapitalisierte und nüchtern gestaltete Welt. Das verbindet das ‚Second Empire‘ mit der Gegenwart. Gezeigt werden die vom Biologen Ulf Soltau fotografierten „Gärten des Grauens“ – Manifestationen einer seit einigen Jahren um sich greifenden Mode, Vorgärten in Steinwüsten zu verwandeln. Baudelaire hätte die Deko-Natur auch gehasst, während ihn Krankheit und Verfall faszinierten. Auch wir können den Blick von Gundula Schulze Eldowys „Mumien“ (2016) kaum abwenden – so lebendig wirken die jahrhundertealten, durch das Fotomedium revitalisierten Toten.