Das Geheimnis der Sprintnation Jamaika
Gina Lückenkemper musste sich das Finale über 100 Meter neben der Laufbahn ansehen. Die deutsche Top-Sprinterin war im Halbfinale der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene mit einer ordentlichen Zeit (11,08 Sekunden) als Vierte ausgeschieden. Ziemlich sicher hätte sie im Finale nur die Hacken der Schnellsten gesehen – sowie die wehenden blond-grün gefärbten Haare von Shelly-Ann Fraser-Pryce. Die 35 Jahre alte Frau aus Jamaika entschied das Rennen nach einem fulminanten Start am Ende in 10, 67 Sekunden knapp für sich.
Auf der Ziellinie hob sie ihre rechte Hand und streckte ihren Zeigefinger nach oben. Gleichzeitig drehte sie sich nach rechts um, um sich zu vergewissern, ob ihr Siegesgefühl berechtigt war. Das war es, wenngleich ihre ärgste Verfolgerin Shericka Jackson (10,73) ihr die Goldmedaille im Schlussspurt fast noch weggeschnappt hätte. Auch Elaine Thompson-Herah (10,82) als Dritte war nicht weit entfernt von beiden. Am Ende umarmten sich die drei und strahlten und über den Schultern der Frauen hing die Flagge in den Farben von Jamaika.
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„Ich weiß gar nicht, wie viele Rückschläge ich in meiner Karriere schon eingesteckt habe und wie oft ich wieder zurückgekommen bin“, sagte Fraser-Pryce den anwesenden Reportern. „Ich bin jedenfalls wieder zurück.“ Tatsächlich hat es bislang in der Geschichte der olympischen Kernsportart wenige Athletinnen gegeben, die derart zählebig sind wie die Weltmeisterin über 100 Meter von Eugene. Als sie 2017 per Notkaiserschnitt ihren Sohn Zyon auf die Welt brachte, rechneten viele mit ihrem Karriereende – und fast alle damit, dass sie an ihre besten Zeiten nie wieder herankommen würde. Doch Fraser-Pryce kämpfte sich zurück. Am Montag holte sie bereits zum fünften Mal den Titel, den ersten hatte sie vor 14 (!) Jahren bei den Weltmeisterschaften in Berlin gewonnen.
Mal wieder also kommen die Schnellsten aus dem karibischen Inselstaat, in dem rund drei Millionen Einwohner leben. Usain Bolt ist der bekannteste Vertreter seines Landes. Der Weltrekordhalter über 100 und 200 Meter überstrahlte die Vielzahl an herausragenden Sprinterinnen und Sprintern aus Jamaika.
Jamaikas Erfolge sind institutionell verankert
Gemessen an der Einwohnerzahl scheinen die Erfolge unglaublich, weshalb sie häufig mit mutmaßlichem Doping erklärt worden sind. Wahr ist, dass die Dopingkontrollen in Jamaika viele Jahre lax waren. Doch das waren und sind sie in sehr vielen Ländern. So mancher Beobachter versuchte Jamaikas vermeintlich wundersame Sprinterinnen und Sprinter mit deren besonderen genetischen Eigenschaften in Verbindung zu bringen. Ein Erklärungsansatz, der rassistische Ressentiments bedient – und der überdies schnell zu widerlegen ist.
So kommen viele Vorfahren der Jamaikanerinnen und Jamaikaner aus West-Afrika. Für ihre Sprinterfähigkeiten sind West-Afrikaner nicht sonderlich bekannt. Sonst müssten etwa die Brasilianer, deren Ursprünge zu großen Teilen ebenfalls in West-Afrika liegen, viele Medaillen im Sprint gewinnen. Das tun sie aber nicht.
Weder vermeintliches Doping noch die angedichtete genetische Disposition können eine Erklärung sein. Es gibt andere Gründe, weshalb deutsche Läufer:innen und oft auch alle anderen Jamaika hinterherrennen. Der Hauptgrund für die Erfolge ist sicher, dass Jamaika eine Sprinternation ist, das heißt, der Sprint ist neben Fußball und Cricket die beliebteste Sportart.
Der Sprint ist institutionell fest verankert in Jamaika. Die Schulen führen schon bei kleinen Kindern knallharte Ausleseverfahren durch. Jedes Jahr Ende März finden über fünf Tage in Kingston die großen Duelle unter den High Schools vor 35.000 Zuschauern statt, es ist die mit Abstand größte sportliche Veranstaltung in Jamaika. Die Kids wollen nicht Tennisspieler oder Basketballer werden, sie wollen Sprinter werden. Vorbilder gibt es etliche, Usain Bolt, Yohan Blake, Shelly-Ann Fraser-Pryce, Elaine Thompson-Herah, Merlene Ottey und, und, und.
Zurück geht das Faible für den Sprint auf die Kolonisatoren. Die Briten hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Leichtathletik auch an den Schulen verankert. Außerdem, so schrieb es der Soziologie-Professor Orlando Patterson in der New York Times, sei die Leichtathletik wichtiger Teil einer Gesundheitskampagne in den 1920er-Jahren gewesen. Das Mantra „Gesunder Körper – Gesunder Geist“ sei gelebt worden. Und das Laufen respektive der Sprint als Sportart, die nichts kostet, wurde zur beliebtesten Disziplin der Leibesübungen. Das ist bis heute der Fall und äußerte sich einmal mehr im Zieleinlauf bei den 100 Metern der Frauen in Eugene.