Ukrainisches Kriegstagebuch (105): Spiel Wagner, spiel!
29.1.2023
Die Vorhänge im Schlafzimmer sind nicht ganz zugezogen, ich kann sehen, wie es draußen schneit. Ich bin gerade aufgewacht und stelle fest, dass ich immer noch müde bin und beschließe, erstmal im Bett zu bleiben. Gestern habe ich wieder mit The Disorientalists gespielt, dem Trio mit Daniel Kahn und Marina Frenk. Das Programm, das wir seit mittlerweile neun Jahren performen, ist immer das gleiche – das Leben des deutschen Schriftstellers Essad Bey in 18 von uns geschriebenen Songs.
Als Lev Nussimbaum 1905 in Kiew geboren, wuchs Essad in einer jüdischen Familie in Baku auf. 1922 trat er in Berlin zum Islam rüber, fing an, für diverse Zeitungen auf Russisch sowie auch auf Deutsch zu schreiben, veröffentlichte 1929 sein erstes Buch und wurde zum gefeierten Autor.
Seine Lebensgeschichte, die wir in unseren Liedern erzählen, hat eigentlich weder mit der Ukraine noch mit der heutigen Situation zu tun, und dennoch denke ich die ganze Zeit daran. Essads Familie hat Aserbaidschan nach der Oktoberrevolution verlassen, und schon in den 1930ern musste er wieder fliehen, diesmal aus Deutschland – zuerst nach Österreich, dann nach Italien, wo er dann mit 36 verstarb, schwer krank und bettelarm.
Zu unserer Vorstellung kamen ukrainische Flüchtlinge, kurz vor Veranstaltungsbeginn sind wir uns begegnet. Eine Frau aus Kiew und zwei Charkiwer, die in Saltiwka gelebt haben, dem Bezirk, der seit Februar 2022 intensiver als die anderen beschossen wurde. Einer von ihnen, der 20-jährige Nikita, ist Schauspieler und Student der Charkiwer Universität der Künste. Das Studium musste er abbrechen, als er im April nach Deutschland kam. Wir fügten uns gegenseitig auf Instagram hinzu, er hat versprochen, mich zu seiner nächsten Berliner Theateraufführung einzuladen.
Die erste Nachricht, die ich heute lese, ist eine gute: Der Generator, den ich von den Spenden meiner Facebookfreunde am Dienstag gekauft habe, hat Charkiw erreicht, berichtet mein Freund Antuan Gniazdo aus dem Postamt. „Perfektes Timing, da wir diese Tage immer öfter keinen Strom haben”, schreibt er, „auch jetzt nicht”.
Wahrscheinlich erkennt mich der Algorithmus als den Autor eines Buches, dessen Titel Richard Wagner enthält. Was wäre sonst die Erklärung dafür, dass unter den Empfehlungen auf meiner YouTube-Startseite sich heute das Lied „Wagner” der russischen Interpretin Vika Tsyganova findet? Selbst wenn damit nicht der deutsche Komponist, sondern das gleichnamige russische Militärunternehmen gemeint ist, sieht es so schräg aus, dass ich der Versuchung nicht widerstehen kann, mir das Video anzuschauen und muss zugeben, dass alle meine Erwartungen übertroffen werden.
Nazi-Fahne neben der US-Fahne
Der Schnitt ist intensiv und ziemlich anstrengend, meine Augen tun nach einer Minute weh, die Bilder wechseln alle zwei Sekunden: Ein Soldat spielt Geige, ein Opa hängt eine amerikanische und eine Nazi-Fahne nebeneinander, ein ukrainischer Dreizack, ein Hakenkreuz, ein Hintlerguß, ein Bild von Tschaikowski, ein Foto von Stalin, ein laufender Bär, ganz viele Explosionen. Scholz und Biden, Selenskyj und Johnson, Bilder vom Gay Pride, noch mehr Explosionen, ein böser Wolf, sowjetische Fahne, Jesus, das Logo der Wagner Gruppe, Karte des Donbass, schon wieder Jesus, muskulöse halbnackte fäusteerhebende Männer.
Der Soundtrack dazu ist ein Popsong mit gängiger pathetischen Melodie, dröhnenden verzerrten Gitarren und folgendem Text:
„Eine Welt ohne Tschaikowski und Dostojewski/ Ist der Weg nach Walhalla! Europa, goodbye!/ Musik von Schukow, Stalin, Newski!/ Amerika, hör zu! Wagner, spiel!/ Es ist der Atem von Armageddon/ Dies ist die Geburt eines neuen Landes /Russland, steh auf unter heiligen Bannern/ Heilige Banner vom heiligen Krieg! /Krieg ist unser Element! /Komm, Russland, steh auf! /Komm, erhebe dich, Russland! /Lasst Wagner spielen!“
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