Ach, wär’ ich doch nur schwerelos

Wenn ein Flughafen mit jahrelanger Verspätung startet, darf auch die flankierende Ausstellung zur BER-Eröffnung ruhig ein paar Monate nachholpern. Dabei war eigentlich alles so schön getaktet, der Take-Off im Kupferstichkabinett perfekt terminiert. „Wir heben ab!“ jubelt der Ausstellungstitel, doch das Auf und Ab der Pandemie brachte das Räderwerk des Museumsbetriebs ins Stottern.

Die künstlerischen Höhenflüge von Albrecht Dürer bis Jorinde Voigt mussten seit der Eröffnung letzten November ohne phantasiereiselustige Gäste im Kulturforums-Hangar ausharren. Jetzt aber geht’s los, endlich. Wenn nur nicht jemand die Notbremse zieht!

Also: Plätze einnehmen zum Rundflug durch den himmelblau getünchten Ausstellungsraum. Flugscham bleibt außen vor, kein Liter Kerosin wird verbrannt. Nur Kreideabrieb, Bleistiftspuren, Druckerschwärze und Farbschlieren bleiben zurück, wenn KünstlerInnen ins Schwerelose abdüsen.

Schwupps, ziehen die Bilder einem den Boden unter Füßen weg. Hilflos rudert der muskelbepackte Ikarus mit den Beinen in der Luft. Der Manierist Hendrick Goltzius erwischte den antiken Antihelden im freien Fall. In gewagter Verkürzung bannte er den Splitternackten 1588 in einen kreisrunden Kupferstich, der wie ein Blick durchs Fernrohr wirkt. Dass dem Luftikus die mit Wachs selbstgebastelten Flügel von der Sonne weggeschmolzen sind, kann er offenbar noch gar nicht fassen. Er beschirmt die Augen vor dem blendenden Licht des allzu nahen Himmelskörpers.

Mit Ikarus beginnt die Geschichte der Apparaturen, die die Schwerkraft auszutricksen versuchen. Aber wer echtes Fliegen beobachten wollte, musste sich in früheren Epochen an die Tierwelt halten. Die hauchfeinen Flügel der Schmeißfliege aquarellierte ein Dürer-Zeitgenosse ebenso täuschend echt aufs Papier wie der Wirklichkeitsfanatiker Adolph Menzel 1882. Auch Fledermäuse wurden skelettiert oder im Flug studiert, die Mechanik ihres Fliegens blieb trotzdem ein Rätsel.

Von Käthe Kollwitz bis Eugène Delacroix

Jahrhundertelang brauchte es die Antriebsfedern Glaube und Imagination, um buchstäblich höhere Sphären anzupeilen. Auf einem Kupferstich anno 1510 staunen die Apostel: Nur die leeren Fußabtritte blieben von Jesus auf der Erdoberfläche zurück, während er gen Himmel auffährt. Von seinem Leib erhascht der Bildausschnitt nur noch ein Stückchen.

Dass Engel Flügel brauchen, die antiken Götter aber ohne diese fliegen konnten, lässt sich in der pointierten Bilderlese quer durch die Zeiten gut verfolgen. Sie tippt viel Aspekte an. Auch Düstere. Wenn der erdenschwere Körper des Menschen auch am Boden blieb, so war doch der Tod der große Leviator. Die Seele dachte man sich entschwebend.

[Bis 1. August, Di – Fr 10 – 18 Uhr; Sa/So 11 – 18 Uhr mit Zeitfensterticket und tagesaktuellem Test. Katalog 112 Seiten, 19,80€]

Mit groben Kreidestriche skizzierte Käthe Kollwitz, wie ihr Sohn unwiederbringlich von einem Schattenmann in die Lüfte gerissen wird. Präzise Strichlagen dagegen bietet Eugène Delacroix auf. Sein „Mephisto in den Lüften“ ist ein kecker, agiler Geist mit Krallenhänden und kräftigen Schwingen, ein würdiger Wettpartner Gottes, mit dem er um die Seele Fausts spielt. Denn ja, auch im Bunde mit dem Bösen lässt es sich fliegen. Die zügellos erotischen Hexen Hans Baldungs von 1510 brauen einen Trank, der wie Dynamit gen Himmel pufft.

Tatsächlich, so erzählt Kuratorin Anna Pfäfflin, haben Forscher im Selbstversuch die Wirksamkeit psychedelischer Pilze und Kräuter bestätigt. So gesehen waren die weisen Frauen seinerzeit durchaus in der Lage zu fliegen, jedenfalls subjektiv. Es geht aber auch ohne Geheimwissen. Die Liebe etwa verleiht, wie man weiß, Flügel. Wolfgang Mattheuer lässt ein engumschlungenes Paar wie selbstverständlich 1964 am sozialistischen Abendhimmel schweben. Große Utopie oder kleine Flucht ins Private?

Der Schrecken holt den Fortschrittsglauben ein

In erotischere Gefilde driftet Max Klinger ab. Seine halbnackte Protagonistin schaukelt so wild, dass die Haare fliegen. Ihr luftiges Spielgerät ist irgendwo im nichts, außerhalb des Bildes verankert. Schwindlig kann einem da werden. Mehr Training brauchen Akrobaten am Trapez und Seil, wie Fernand Lèger sie 1950 in ein farbkräftiges Bildgleichgewicht bringt.

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Längst hatte zu dieser Zeit die technische Entwicklung die kühnen Künstlerträume von einst überflügelt. Grafiker hielten Schritt für Schritt für die Augen einer sensationshungrigen Öffentlichkeit fest, wie die Menschheit fliegen lernte. 1790: in Berlin wird ein Ballonflug annonciert. 1804: mittels Heißlufttechnologie geht es übers Brandenburger Tor. Auch die Frauen hält es nicht am Boden. Den Soloflug 1820 von Madame Reichardt in München dokumentiert ein Stich.

Schön ist das alles anzusehen, aber irgendwann holt der Schrecken den ungebremst positiven Fortschrittsglauben ein. Goyas unheimliche Flugwesen ließen die Kehrseite ja längst ahnen. Alle hochfliegenden Träume der Aufklärung von einer friedlichen Luftfahrt ohne Grenzen zerplatzen. Nach dem Fliegerbombenhagel des Ersten Weltkriegs entwirft Otto Dix eine Szenerie des Grauens, seine Toten gleichen Vergewaltigungsopfern. Wolf Vostell sekundiert mit einer Staffel amerikanischer Starfighter.

„Der Engel der Geschichte“, der seit Walter Benjamin durch die Kunst spukt: am Ende könnte er ein Flugzeug sein. Bei Anselm Kiefer jedenfalls bleibt das Fluggerät unter diesem Titel bleischwer am Boden. Kein Take-Off? Alle Starts gecancelt? Die Ausstellung entlässt ihre Fluggäste mit einer luftigen Vogelschau auf die weiten Bleistiftlandschaften von Nanne Meyer. Halb abstrakt, halb hyperpräzise lassen die riesigen Zeichnungen Raum für Phantasie. Ein intensives Gefühl des Schwebens zaubern sie herbei. Es gibt kein antriebsstärkeres Fluggerät als die Imagination.