Gladiatorenkämpfe in der Hölle
In den späten 1940er Jahren stand ein Mann vor dem Haus der Familie Levinson in Baltimore. Der kleine Barry hatte ihn noch nie gesehen. Er hieß Simcha und war der Bruder seiner Großmutter. Nachts hörte Barry ihn in einer fremden Sprache rufen und sah, wie er im Schlaf um sich schlug. Erst Jahre später erfuhr er: Simcha hatte den Holocaust überlebt. Die Erinnerungen flackern wieder auf, als Barry Levinson Justine Juel Gillmers Drehbuch zu „The Survivor“ liest, das die wahre Lebensgeschichte des Auschwitz-Häftlings Hertzko „ Harry“ Haft erzählt.
Haft überlebte das Konzentrationslager nur, weil ihn ein SS-Offizier dazu auserkoren hatte, in tödlichen Boxkämpfen gegen andere Häftlinge anzutreten. In Gillmers Drehbuch steht aber nicht Auschwitz im Mittelpunkt, sondern die Zeit nach dem Krieg, als Harry zutiefst traumatisiert in Brooklyn lebte. Der Regisseur erkannte die Symptome seines Großonkels wieder und entschied sich, das Skript zu verfilmen.
Die größten Erfolge von Barry Levinson, der im April 80 geworden ist, liegen Jahrzehnte zurück: „Good Morning, Vietnam“, Rain Man“, für den er 1989 den Oscar erhielt, und die Politsatire „Wag The Dog”. Heute arbeitet er eher unter dem Radar, macht solides Unterhaltungskino. Zuletzt produzierte er (und drehte zwei Folgen für) die Dramaserie „Dopesick“. Seine Regiearbeit „The Survivor” ragt aus dem Spätwerk allerdings heraus.
Liebe ist keine Erlösung
Großen Anteil daran hat Hauptdarsteller Ben Foster, dem Levinson 1999 zu seiner ersten großen Rolle in „Liberty Height“ verholfen hat. Für „The Survivor” hungerte sich der Schauspieler mehr als 30 Kilo herunter. Die Rückblenden hämmern einem den Wahnsinn dieser Gladiatorenkämpfe ein, auch wenn sie in ihrer stilisierten Schwarz-Weiß-Ästhetik beinahe etwas zu „schön“ geraten sind. Kameramann George Steel rückt den Kämpfern auf den Leib, er zeigt den Dreck auf der Haut, das Blut.
Als Harry sich nach einem Kampf als Sieger erhebt und hinter ihm die Hakenkreuzflaggen wehen, wirkt das irritierend monumental. Doch Levinson suggeriert damit auch, dass Harry, um zu überleben, zu einem Werkzeug geworden ist. Der Regisseur macht es sich nicht leicht mit seiner Figur. Man mag diesen Harry einfach nicht, auch nicht in den farbsatten Szenen aus der Nachkriegszeit. Das Grauen der Flashbacks hat sich da längst wie Mehltau über die Handlung gelegt.
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Harry verdient inzwischen mit Boxen seinen Lebensunterhalt. (Einmal tritt er sogar gegen den späteren Weltmeister Rocky Marciano an.) Dafür musste Foster in fünf Wochen Drehpause wieder 25 Kilo zunehmen. Doch seine Leistung erschöpft sich nicht allein im Körperlichen. Levinson weckt auch Mitgefühl, Harrys Getriebenheit ist durch eine tragische Romanze motiviert. Auf der Suche nach seiner verschollenen Jugendliebe (Dar Zuzovsky) bekommt er Hilfe von Miriam (Vicky Krieps), die für eine Organisation arbeitet, die Holocaust-Überlebende wieder zusammenführt. Wie es diese Sorte von Drehbuch will, nähern sich Harry und Miriam an. Von einer Anziehungskraft ist allerdings wenig zu spüren.
(Im Kino Sputnik, OmU)
Die fehlende Chemie zwischen Foster und Krieps scheint zunächst die Schwachstelle von „The Survivor“ zu sein. Die vermeintliche Liebe soll jedoch gar nicht der Erlösung dienen. Wenn Harry sich nach der Hochzeit zum despotischen Familienoberhaupt wandelt, zeigt Levinson, wie das Trauma zwischenmenschliche Beziehungen zersetzt und noch in künftige Generationen hineinwirkt.
Und so kriegt der Veteran Levinson noch einmal die Kurve. Er findet sogar Gelegenheit, eine sehr persönliche Szene einzubauen: Harrys ältester Sohn Alan (Kingston Vernes), der Jahrzehnte später die Geschichte des Vaters aufschreiben wird, sieht ihn eines Nachts auf der Couch liegen. Harry wälzt sich im Schlaf, murmelt und schreit auf Jiddisch. Ganz so wie Levinson einst seinen Großonkel Simcha erlebt hat.